Was ist Imperialismus?

Seit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands gegen die Ukraine heißt es: Der Imperialismus ist zurück! Aber war der Imperialismus jemals weg? Um das herauszufinden, fangen wir am besten mal bei der Frage an: Was ist eigentlich Imperialismus?

Fragt man ein Lexikon oder eine Suchmaschine, was Imperialismus ist, bekommt man die historische Phase des sogenannten "Hochimperialismus" zwischen circa 1870 und 1919 ausgespuckt. In dieser Periode traten die europäischen Mächte in eine neue Phase  gegenseitiger Konkurrenz um Ressourcen, Absatzmärkte, Arbeitskräfte und Machtzonen am ganzen Globus ein. Im “Wettlauf um Afrika" teilten die Kolonialmächte beinahe den ganzen Kontinent unter sich auf und errichteten immer mehr formalisierte Herrschaftsstrukturen in Afrika, die zu einer immer intensiveren und extrem gewaltvollen Ausbeutung von Ressourcen und Menschen führten. Auch in Asien dehnte sich die imperiale Macht der europäischen Zentren immer weiter aus. 

Die revolutionäre Sozialistin Rosa Luxemburg blickte auf diese Entwicklungen des Kapitalismus und machte eine wichtige Beobachtung: Die kapitalistische Wirtschaft kann sich nicht auf ewig innerhalb der bereits in Gang gesetzten Produktionskreisläufe weiterdrehen, sondern muss immer wieder über die eigenen Grenzen gehen und neue Quellen für Ressourcen und Arbeitskräfte und neue Absatzmärkte erschließen. Luxemburg kam so in ihrem 1913 erschienenen Werk “Die Akkumulation des Kapitals” zu dem Schluss, dass der Kapitalismus auch darauf beruht, sich nicht-kapitalistische Produktivkräfte zu eigen zu machen. Fragt man Rosa Luxemburg, so ist Imperialismus der politische Ausdruck dieses Prozesses, in dem die kapitalistische Produktionsweise expandiert und neue Produktionsmittel und Arbeitskräftereservoirs angeeignet werden.

Anders als bei herkömmlichen Imperialismusdefinitionen, die Imperialismus auf das Machtstreben von Nationalstaaten reduzieren, zeigt Rosa Luxemburg hier eine wichtige Verbindung zur kapitalistischen Wirtschaftsweise auf, die den Imperialismus von früheren Imperien unterscheidet. In der Geschichte der Menschheit hat es auf der ganzen Welt immer wieder riesige Reiche und Imperien gegeben, so geht doch der Begriff “Imperium” selbst auf das römische Weltreich zurück, das zu seinem Höhepunkt um das Jahr 100 rund 21 Prozent der Weltbevölkerung umfasste. Etwas ist aber im Kapitalismus anders: Die kapitalistische Produktionsweise beruht auf einem wirtschaftlichen Prozess, der immer wachsen muss, was es irgendwann notwendig macht, die Grenzen der vorhandenen Produktionsketten zu sprengen und zu expandieren. Seit der ersten Entwicklung des Kapitalismus gibt es eine ökonomische Grundlage für Imperialismus, die es zuvor in der Geschichte in dieser Form nie gegeben hat. Wir sehen also: Eine Voraussetzung für Imperialismus ist die kapitalistische Logik.

Etwa zur gleichen Zeit wie Rosa Luxemburg stellte auch Wladimir I. Lenin Überlegungen über den imperialistischen Höhenflug der kapitalistischen Mächte an. In seiner 1917 erschienenen Schrift “Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus” beschreibt Lenin den Imperialismus als letzte Stufe der kapitalistischen Entwicklung. Es ist das Stadium der Monopole, die nicht nur Waren, sondern auch Kapitalanlagen exportieren, also selbst investieren und sich weltweit die Produktionsmittel einverleiben. Es ist auch das Stadium der Banken und des Finanzkapitals, die zunehmend Dominanz über die produktiven Prozesse erlangen. In diesem “letzten Stadium” des Kapitalismus ist der ganze Globus zwischen den großen Mächten aufgeteilt - es kommt nur mehr eine Neuaufteilung in Frage.


 

 

“Imperialismus ist Gewaltpolitik von kapitalistischen Staaten gegenüber Anderen, um offen oder versteckt ein politisches und wirtschaftliches Regime zu etablieren oder abzusichern.”

Die zugrunde liegenden Strukturen, die Luxemburg und Lenin zu verstehen und zu erklären versuchen, haben sich bis heute nicht geändert. Deshalb ist auch der Imperialismus nicht Geschichte, sondern dominiert weiter das Weltgeschehen. Etwas ist aber heute, über 100 Jahre später, ganz wichtig zu erkennen: Imperialismus ist nicht eine historische Phase des Kapitalismus, wie Lenin und auch Luxemburg meinten, sondern eine bestimmte Politik innerhalb von kapitalistischen globalen Zusammenhängen, die in diesen 100 Jahren mehrmals sehr weitreichenden Veränderungen unterlagen. Deswegen ist es ganz wichtig, sich die aktuellen Entwicklungen des internationalen Kapitalismus und die politischen Strategien der verschiedenen Machtblöcke anzuschauen, um Imperialismus zu kritisieren, denn er hat heute mitunter ein anderes Gesicht als noch zur Zeit von Luxemburg und Lenin. 

Trotzdem kann man einige allgemeine Aussagen über den Imperialismus treffen: Imperialismus ist Gewaltpolitik von kapitalistischen Staaten gegenüber Anderen, um offen oder versteckt ein politisches und wirtschaftliches Regime zu etablieren oder abzusichern. Imperialistische Politik wird innerhalb eines globalen politischen Gefüges und eines globalen Kapitalismus betrieben, in dem einige kapitalistische Zentren Macht und Einfluss gegenüber ihnen untergeordneten Peripherien ausüben. Diese Gewaltpolitik wird ganz offen betrieben, durch direkten Zwang wie durch Krieg, Besetzung und Kontrolle von Land, Bevölkerung, Politik und Ressourcen. Imperialistische Gewalt ist aber oft gar nicht so offensichtlich und direkt, sondern spielt sich unterschwelliger in den Machtkämpfen über globale wirtschaftliche und politische Strukturen ab.


 

Diese allgemeinen Feststellungen kann man ganz gut am Beispiel der imperialen Politik der USA zeigen. Die USA gingen nach dem Zweiten Weltkrieg als neuer Hegemon, als neues, großes kapitalistisches Machtzentrum hervor und gestalteten die internationalen Regeln des Kapitalismus zu ihren Gunsten. Darin waren die USA sehr erfolgreich. Das zeigte sich besonders prägnant darin, dass es den USA und dem Machtblock des westlichen Kapitalismus gelang, die neuerdings formal unabhängigen Staaten in eine Schuldenfalle zu treiben. Die Staatspolitiker jener Bevölkerungen, deren soziale und naturale Ressourcen über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte skrupellos ausgebeutet worden waren, mussten nun bei den internationalen Banken des Westens Kredite aufnehmen, um den Aufbau des Staates zu finanzieren und schlitterten so in eine neue, imperiale Abhängigkeit. Diese Abhängigkeit ermöglichte es den kapitalistischen Zentren, ihren Banken und Finanzinstitutionen, wie der Welthandelsorganisation, dem Internationalen Währungsfonds, immer wieder in der Geschichte den armen, abhängigen Ländern ihr wirtschaftliches Programm aufzuoktroyieren. Zuletzt geschah das in der Eurokrise, als die Troika, bestehend aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Kommission, den europäischen Schuldnerländern ein neoliberales Sparprogramm aufzwang, das nie dazu geeignet war, den Staatshaushalt zu stabilisieren, sondern nur einen Ausverkauf der staatlichen Unternehmen an die europäische Privatwirtschaft bedeutete.

Die imperiale Logik machte die Sowjetunion zum großen Rivalen der USA, die sich fortan dem “Kampf gegen den Kommunismus” verschrieb, nicht nur, um die “sozialistische Bedrohung” einzudämmen, sondern eben auch, um die eigene Macht einzuzementieren. Um die eigenen Interessen zu verteidigen, zögerten die USA auch nicht, geheimdienstlich und militärisch in die Innenpolitik anderer Länder einzugreifen. Seit 1945 haben die USA, Großbritannien und Frankreich, die NATO-Großmächte, mehr als 80 Kriege und militärische Interventionen am ganzen Globus geführt. Nach dem Ende des Kalten Kriegs erlebten die USA einen “unipolaren Moment”, in dem sie ohne ebenbürtige Herausforderer da standen. Doch dieser Moment dauerte nicht lange und seither gibt es starke Tendenzen zu einer “multipolaren” Situation, in der die Konkurrenz zwischen mehreren großen, zentralen Akteuren immer weiter zunimmt. Auch in dieser Situation griffen NATO-Staaten militärisch im Sinne ihrer Interessen ein, zum Beispiel im Irak, Afghanistan, Libyen, Jemen, Tschad, Somalia und Mali. In keinem Fall mussten sich die NATO-Staaten verteidigen, es ging immer darum, ihre wirtschaftlichen Interessen militärisch zu sichern.

Imperialismus ist aber nicht nur ein Phänomen der größten Zentren, wie den USA, China oder Russland. Auch hierzulande müssen wir uns die Frage nach “Imperialismus Made in Austria” stellen und das nicht nur, weil Österreich Mitgliedstaat der Europäischen Union ist, die sowohl wirtschaftlich als auch militärisch als imperiales Bündnis agiert. Wir könnten die Frage “Was ist Imperialismus?” genauso gut den Vorstandsmitgliedern von A1 Telekom, der Raiffeisenbank International, der Erste Group oder der OMV stellen - immerhin sind sie sehr gut darin, imperialistische Politik in Zentral-, Ost- und Südosteuropa zu machen. Sie müssten also wissen, was sie da tun.

Die A1 Telekom Austria zum Beispiel gehört teilweise der Republik Österreich - und fährt seit 2007 kräftig Gewinne in der Diktatur Belarus ein. Mittlerweile hat der österreichische Telekommunikationskonzern in Belarus einen Marktanteil von 42 Prozent und beim belarussischen Präsident Lukaschenko einen ordentlichen Stein im Brett, denn die A1 hat sich bereits mehrmals willig gezeigt, mit dem Regime Lukaschenkos zu kollaborieren, als es darum ging, die Daten von Oppositionellen aus Belarus weiterzugeben und so die demokratischen Bewegungen zu überwachen. Die rege Geschäftstätigkeit von A1 in Belarus war auch der Grund, warum Österreich so zögerte, als es darum ging, Sanktionen gegen die Diktatur in Belarus zu erlassen. Die Geschäftsleitung der A1 kann also sicher sehr gut erklären, wie Imperialismus funktioniert, nämlich genau so: Die A1 Telekom in Belarus, ein teilstaatlicher Konzern, expandiert ökonomisch mithilfe der Rückendeckung der Republik und wird in einer ganzen Branche in einem anderen Land ein dominanter Akteur. Die Gewinne, die in Belarus abgeschöpft werden, fließen in die Hände der Aktionäre der österreichischen Bank, während der Staat Österreich wirtschaftlich an Macht und Einfluss in der Region gewinnt.

Mit der Imperialismustheorie von David Harvey können wir diesen Gleichklang von Großkonzernen und Staat sehr gut verstehen. David Harvey ist seit vielen Jahrzehnten der meistzitierteste Humangeograph und für seine Theorien über den “neuen Imperialismus” bekannt, eine Weiterentwicklung und Aktualisierung der Ideen von Luxemburg und Lenin. Er definiert Imperialismus als widersprüchliche Verschmelzung von Empire-Politik und Kapitalakkumulation. Auf der einen Seite ist Imperialismus ein politisches Projekt von (staatlichen) Akteuren, deren Macht darauf beruht, dass sie Herrschaft über ein Land haben und dessen menschliche und natürliche Ressourcen mobilisieren können. Auf der anderen Seite ist Imperialismus ein diffuser politisch-ökonomischer Prozess, der sich über Zeit und Raum erstreckt und in dem die Logik des Kapitals, die Profitlogik, vorherrscht. Dieser politisch-ökonomische Prozess wird davon angetrieben, dass Konkurrenz- und Wachstumszwang die großen wirtschaftlichen Akteure immer dazu bewegen, neue Verwertungsmöglichkeiten zu finden und alte fallen zu lassen, wenn sie nicht mehr genug Profite abwerfen. Wenn der “heimische Markt” ausgeschöpft ist, muss expandiert werden, wenn die Gewinnspanne in der "heimischen Produktion” nicht mehr wächst, muss verlagert werden und so weiter.


 

Aus den zwei Seiten des Imperialismus, Empire-Politik und Kapitalakkumulation, ergeben sich zwei verschiedene Leitlinien für die imperialistischen Akteure: Die Kapitalist*innenklasse sucht typischerweise nach Möglichkeiten, ihr Kapital gewinnbringend einzusetzen und zu vermehren. Politiker*innen und Staatsleute versuchen typischerweise, die Macht des eigenen Staates gegenüber anderen Staaten zu erhalten oder auszuweiten. Staatsakteure und Kapitalist*innen sind dabei gegenseitig abhängig voneinander: Die Kapitalist*innenklasse ist darauf angewiesen, dass “ihr” Staat die notwendigen Rahmenbedingungen für Markteintritt, Investition, Handel herstellt, die Staatsakteure sind gleichzeitig auf die ökonomische Macht der Kapitalist*innenklasse angewiesen, weil von der ökonomischen Macht die geopolitische Macht eines Staates abhängt. 

Es ist also alles andere als ein Zufall, dass österreichische Banken und Telekommunikationskonzerne Zentral- und Osteuropa und die Balkanregion als ihren "Heimatmarkt" betrachten und gleichzeitig der Staat Österreich sich politisch aktiv als besonderer „Kenner“ und „Freund“ der Staaten dieser Region, insbesondere des Westbalkans, inszeniert und positioniert. In dieser Inszenierung stecken imperiale Sentimentalität (immerhin waren Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina Teil der Österreich-Ungarischen Monarchie) und beinharte wirtschaftliche Interessen. Bereits vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion fungierte das “neutrale” Österreich als Brückenkopf in den Osten, als Einfallstor für das westliche Kapital. Spätestens seit Beginn der kapitalistischen Transformation in den ehemals kommunistischen Nationalökonomien hat sich Österreich wieder als gewichtiger wirtschaftlicher Akteur aufs Parkett begeben. Und seit Österreich selbst EU-Mitglied ist, setzten sich Politiker*innen jeder Partei für EU-Balkanerweiterungen ein, um österreichischen Konzernen den Marktzugang am “Heimatmarkt” zu erleichtern. Über die Jahrzehnte hat sich so eine engmaschige Abhängigkeitsbeziehung entwickelt. Investitionen aus Österreich nehmen in der Region eine sehr zentrale Rolle ein, insbesondere im Finanzsektor.


 

"Die Kapitalist*innenklasse sucht typischerweise nach Möglichkeiten, ihr Kapital gewinnbringend einzusetzen und zu vermehren. Politiker*innen und Staatsleute versuchen typischerweise, die Macht des eigenen Staates gegenüber anderen Staaten zu erhalten oder auszuweiten."

Der Imperialismus konnte also gar nicht zurückkehren, denn er war nie aus der Logik der internationalen ökonomischen und politischen Beziehungen verschwunden, weder im Großen noch im Kleinen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat aber trotzdem etwas sehr wichtiges in der aktuellen Entwicklung verändert: Die Konfrontation zwischen dem Machtblock des “alten Westens”, den USA, der EU und der NATO und dem imperialen Russland hat sich sehr stark zugespitzt und die Gefahr einer Eskalation is t um einiges konkreter geworden. Etwas ist aber gleich geblieben: Es braucht eine starke, kritische Stimme gegen das imperiale Weltgeschehen, die Imperialismus beim Namen nennt, wo immer wir ihm begegnen, die nicht zulässt, dass Globalpolitik im nationalstaatlichen, wirtschaftlichen Interesse betrieben wird und die einsteht für internationale Solidarität der 99%, auf deren Rücken diese imperiale kapitalistische Politik betrieben wird.