Pro: Direkte Demokratie
Fabian Zickler
Wir leben in einer Zeit, wo immer von "Demokratieverdrossenheit" die Rede ist, und es rechtspopulistischen Parteien gelingt, nicht nur ihr autoritäres Gedankengut salonfähig zu machen, sondern auch demokratische Institutionen und Ergebnisse in Frage zu stellen. Gerade in dieser Zeit scheint es doch sinnvoll, den Menschen weitere demokratische Instrumente in die Hand zu drücken und Demokratie unmittelbarer erlebbar zu machen.
(Dieser Artikel ist ein Teil der “Pro und Contra”-Debatte zum Thema “Direkte Demokratie”. Den Contra-Artikel von Eva Reiter könnt ihr hier lesen.)
Laut Umfragen unterstützen 60% der Menschen in Österreich die Einführung einer Vermögenssteuer. Bei der Erbschaftssteuer sind es sogar 70%. Nicht einmal ein Sechstel würde einen NATO-Beitritt befürworten. Eine klare Mehrheit der Befragten wünscht sich eine Arbeitszeitverkürzung. Und fast drei Viertel denken, den Zugang zu Schwangerschaftsabbruch in allen Bundesländern zu ermöglichen, würde Gesundheit und Wohlbefinden von Frauen fördern.
Die ÖVP ist seit 1986 (fast) durchgehend an der Regierung beteiligt und verhindert im Dienste ihrer Großspenderinnen und Großspendern gesellschaftlichen und sozialen Fortschritt in Österreich. Diese eigentlich sehr unbeliebte Politik wird durch übergroße Wahlkampfbudgets, Wahlkampfkostenüberschreitungen, gewogene Medien und im Notfall im Bündnis mit dem Rechtsextremismus durchgedrückt. Dass diese Art, die Interessen der Herrschenden in der Politik durchzusetzen, auch bei einer Abstimmung über konkrete politische Forderungen funktionieren würde, bei denen es um die unmittelbare Lebensrealität der Wahlberechtigten geht, ist nicht gesagt. Die genannten Umfragen deuten eher auf das Gegenteil hin. Würde man es heute in Österreich ermöglichen, auch ohne Zustimmung der Regierungsfraktionen durch direktdemokratische Instrumente Forderungen durchzusetzen, könnte das den größten sozialpolitischen Fortschritt mit sich ziehen, den Österreich in den letzten Jahrzehnten erlebt hat.
Soziale Mitmachkampagnen als Vorbild
Um das zu untermauern, reicht ein Blick in die Hauptstadt unseres Nachbarlandes Deutschland. In den 2000er Jahren hat die Stadt Berlin Sozialwohnungen privatisiert und an einzelne Immobilienkonzerne wie “Deutsches Wohnen” verkauft. Mit den explodierenden Privatmieten sind natürlich auch die Dividenden der Aktionäre auf ein exorbitantes Niveau gestiegen. Linke Initiativen haben sich das zum Anlass genommen, um nicht nur auf einzelne missbräuchliche Praktiken der Immobilienkonzerne hinzuweisen, sondern auch prinzipiell in Frage zu stellen, ob man mit der Miete von Menschen, also dem Grundbedürfnis nach Wohnraum, Profite machen sollte. Die Bürgerinitiative “Deutsches Wohnen & Co enteignen” wurde daraufhin initiiert.
Zu den Gegner dieser Initiative gehören neben der konservativen CDU, der liberalen FDP und der rechtspopulistischen AfD auch die Sozialdemokratie und die grüne Wirtschaftssenatorin. Bei der Volksabstimmung stimmten schließlich 58% für die Enteignung bei über 70% Wahlbeteiligung - mehr als für die amtierende linke Stadtregierung bei den gleichzeitig abgehaltenen Wahlen.
Jetzt kann man sicher, auch aus linker Perspektive, trefflich darüber diskutieren, wie die Berliner Wohnbaupolitik am besten die schwierige Situation der Mieterinnen und Mieter verbessern kann. Zweifelsohne hat diese Kampagne eine Grundsatzdebatte auf die Tagesordnung gesetzt, die im etablierten Parteiensystem schon lange keinen Platz mehr hat
“Während es historisch linke und liberale Kräfte waren, die sich für eine Ausweitung der demokratischen Grundrechte eingesetzt haben, erheben heute ganz besonders auch rechtspopulistische Parteien die Forderung nach mehr direkter Demokratie. Das passt in ihre populistische Erzählung, nach der sie die “schweigende Mehrheit” gegen “die Eliten” und “das System” vertreten. Das Gegenteil ist in Wahrheit natürlich der Fall."
Die schweigende, rechte Mehrheit ist eine Illusion
Während es historisch linke und liberale Kräfte waren, die sich für eine Ausweitung der demokratischen Grundrechte eingesetzt haben, erheben heute ganz besonders auch rechtspopulistische Parteien die Forderung nach mehr direkter Demokratie. Das passt in ihre populistische Erzählung, nach der sie die “schweigende Mehrheit” gegen “die Eliten” und “das System” vertreten. Das Gegenteil ist in Wahrheit natürlich der Fall. Sie verdecken mit dieser Rhetorik nur, dass sie tatsächlich genauso die Interessen der herrschenden Klassen umsetzen. Die FPÖ hat Steuererleichterungen für große Unternehmen, einer Erhöhung der Höchstarbeitszeit von 10 auf 12 Stunden am Tag oder der Privatisierung von großen Staatsunternehmen zugestimmt. Sie hat also höchst unbeliebte, neoliberale Politik gemacht. Kein Wunder also, dass die FPÖ in der Opposition immer groß direkte Demokratie einfordert, aber in 7 Jahren Regierungsbeteiligung dann doch immer darauf vergessen hat.
Ein Thema, bei dem ersichtlich wird, dass Rechtspopulisten nicht die Mehrheit der Menschen vertreten, ist der Kampf um reproduktive Selbstbestimmung in den Vereinigten Staaten. Nachdem der konservative Oberste Gerichtshof 2022 das Grundsatzurteil “Roe v. Wade”, das das Recht auf Abtreibung in allen Bundesstaaten sichergestellt hatte, aufhob, versuchten verschiedene Initiativen auf Ebene der einzelnen Bundesstaaten das Abtreibungsrecht zu liberalisieren oder zu verschärfen. In den Bundesstaaten Kalifornien und Michigan wurde vorgeschlagen, per Volksabstimmung das Recht auf Selbstbestimmung in die jeweilige Landesverfassung aufzunehmen. Beide Initiativen wurden mit großer Mehrheit angenommen. Im Gegenzug setzen sich Abtreibungsgegner in den erzkonservativen Staaten Kansas und Kentucky dafür ein, das Recht auf Abtreibung per Abstimmung massiv einzuschränken. Beide Initiativen wurden mit deutlicher Mehrheit abgelehnt. Nur um den Erfolg zu verdeutlichen, der hier gelungen ist: In Kansas stimmten 2020 insgesamt 56% für Donald Trump und nur 42% für Joe Biden. Im Referendum stimmten dann allerdings nur noch 41% für ein Verbot von Abtreibungen und die restlichen 59% dagegen.
Durch Volksabstimmungen konnten etwa in Arkansas die Mindestlöhne erhöht, in Oklahoma medizinisches Cannabis legalisiert und in Montana das Gesundheitssystem ausgeweitet werden. In Florida legte das Wahlrecht lange Zeit fest, dass verurteilte Straftäter erst fünf Jahre nach Ende ihrer Haftzeit vor der Staatsregierung beantragen dürfen, dass ihnen ihr Wahlrecht wiederhergestellt wird. Ein Zehntel der Bevölkerung in Florida war deswegen nicht wahlberechtigt, unter der afro-amerikanischen Bevölkerung war es sogar ein Fünftel, weil diese vom “War on Drugs” überproportional betroffen ist. Dieses große demokratiepolitische Defizit wurde per Referendum von fast zwei Drittel der Wählerinnen und Wähler behoben. Gegen den Widerstand der rechtskonservativen Republikanischen Partei in einem zunehmend republikanischen Bundesstaat. Nur am Rande: Nur dank der progressiven Aktivistinnen und Aktivisten, die sich damals für das demokratische Wahlrecht stark gemacht haben, darf der ehemalige US-Präsident Donald Trump als verurteilter Straftäter bei der Präsidentschaftswahl 2024 selbst mitwählen.
Wohin entwickelt sich unsere Demokratie?
Die hoffnungsvollen Beispiele aus den Vereinigten Staaten und aus Deutschland zeigen, welcher große Fortschritt von sozialen Bewegungen mit Instrumenten der direkten Demokratie erkämpft werden kann. Wir leben in einer Zeit, wo immer von "Demokratieverdrossenheit" die Rede ist, und es rechtspopulistischen Parteien gelingt, nicht nur ihr autoritäres Gedankengut salonfähig zu machen, sondern auch demokratische Institutionen und Ergebnisse in Frage zu stellen. Gerade in dieser Zeit scheint es doch sinnvoll, den Menschen weitere demokratische Instrumente in die Hand zu drücken und Demokratie unmittelbarer erlebbar zu machen.
Der ehemalige Bundeskanzler Bruno Kreisky wollte “alle Lebensbereiche mit Demokratie durchfluten”. Angesichts von über einer Million Menschen, die in Österreich leben und nicht mitwählen dürfen, weil sie über den falschen Pass verfügen, erscheint diese Forderung aktueller denn je. Eine Demokratisierung kann nicht bei der direkten Demokratie enden, sondern sollte auch sicherstellen, dass unsere gewählten Vertreterinnen und Vertreter von ihren Wählerinnen und Wähler unmittelbar verantwortlich gemacht werden können. In unserem aktuellen politischen System können direktdemokratische Elemente aber dafür genutzt werden, linke Forderungen umzusetzen und das Vertrauen in die Demokratie wieder zu stärken.