Politische Bewegungen: Wie entstehen sie?
Katharina Karrer
Ob auf den Straßen Paris der 68er Bewegung oder in den Arbeitervierteln Berlins während der Novemberrevolution — politische Bewegungen sind der Schlüssel gesellschaftlicher Veränderungen und haben immer wieder ihre Relevanz für politische Transformationen bewiesen. Doch wie entstehen solche Bewegungen und warum zerfallen manche, während andere jahrzehntelang existieren?
Politische Bewegungen haben ein klares Ziel vor Augen und schaffen es, Menschen davon zu überzeugen, dass die Sache etwas mit ihnen zutun hat. Sie sind einflussreich, selbst ohne einen klaren “Anführer” — es sind die Menschen, das Volk, welche politische Bewegungen voranbringen. Diese entstehen jedoch nicht aus dem Nichts. Sie sind die Reaktion auf kollektive Unzufriedenheit, politische Entscheidungen, Unterdrückungen und Krisen, sie basieren auf Leid und entstehen am Häufigsten durch soziale Ungerechtigkeit. Ein gutes Beispiel dafür ist die Arbeiter:innenbewegung im 19. Jahrhundert, die als Antwort auf die Ausbeutung in der industriellen Revolution entstand.
Damals arbeiteten Menschen in Fabriken unter unmenschlichen Bedingungen: Lange Schichten, schlechter Lohn, keine soziale Absicherung. Viele Menschen sahen, dass es so nicht weitergehen konnte. Am 23. Mai 1863 wurde deshalb in Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) gegründet — die erste große sozialistische Organisation in Deutschland. Ihr Gründer, Ferdinand Lassalle, setzte sich vor allem für das allgemeine Wahlrecht ein. Er war überzeugt: Erst wenn Arbeiter*innen mitbestimmen können, verbessert sich ihre Lage nachhaltig. Allerdings erweist sich die Geschichte ebenso als ein deutlicher Warnruf davor, sich als Bewegung zu stark in die bestehenden staatlichen Strukturen einbinden zu lassen. Reformistische Tendenzen haben in den meisten Fällen dazu geführt, dass Bewegungen ihre originalen Ziele aus den Augen verlieren und in der Folge den Klassenkampf entwaffnen. Exemplarisch ist in diesem Zusammenhang das Beispiel der deutschen Sozialdemokratie heranzuziehen, die nach der Erringung sozialer Errungenschaften mehr und mehr in die Einbindung in die kapitalistische Gesamtwirtschaft abglitt. Und sozialistische Gruppen, die auch langfristig erfolgreich sein wollen, dürfen ihre politische Selbständigkeit nicht aufgeben und haben auch ihren antikapitalistischen Kampf fortzusetzen — ungeachtet großer und kleiner politischer Parteien, ungeachtet der politischen Institutionen des Staates.
Politische Bewegungen sind nie ganz einheitlich. Innerhalb der Arbeiter*innenbewegung gab es Streit darüber, wie man am besten vorgehen sollte. Lassalle wollte mit dem Staat zusammenarbeiten, während andere, wie August Bebel und Wilhelm Liebknecht, eher auf Klassenkampf und eine unabhängige Bewegung setzten. Diese Spannungen führten später zur Spaltung, zeigen aber auch: Politische Bewegungen sind dynamisch und entwickeln sich weiter.
Trotz Verboten und Unterdrückung — wie durch die Sozialistengesetze von Bismarck — hielt die Arbeiter*innenbewegung zusammen. Das Beispiel der Arbeiter*innenbewegung zeigt: Bewegungen brauchen ein gemeinsames Ziel, eine geteilte Erfahrung und die Fähigkeit, sich an neue Herausforderungen anzupassen. Nur so können sie bestehen und Veränderungen anstoßen.
Neben sozialer Ungerechtigkeit, sind Repressionen und politische Unterdrückung ebenso Auslöser für politische Bewegungen, unter Anderem die Novemberrevolution von 1918. Die Unzufriedenheit der Soldaten und Arbeiter*innen über den ersten Weltkrieg und die sozialen Probleme entwickelte sich zu einer breiten Protestbewegung mit der Forderung nach demokratischen Rechten, die schließlich zur Ausrufung der Republik führte.
“Bewegungen wie #MeToo, Black Lives Matter oder Fridays for Future zeigen, wie ein einzelner viraler Beitrag Millionen mobilisieren und gesellschaftliche Diskurse nachhaltig beeinflussen kann."
Zur heutigen Zeit spielen Technologie und vor allem soziale Medien eine wichtige Rolle in politischen Bewegungen überall auf der ganzen Welt. Bewegungen wie #MeToo, Black Lives Matter oder Fridays for Future zeigen, wie ein einzelner viraler Beitrag Millionen mobilisieren und gesellschaftliche Diskurse nachhaltig beeinflussen kann.
Die Black Lives Matter Bewegung enstand im Jahr 2013 als Reaktion auf den Freispruch von George Zimmerman. Dieser hatte zuvor den 17 Jahre alten Trayvon Martin verfolgt und erschossen. Die Bewegung erreichte besonders nach George Floyds Ermordung in 2020 weltweite Aufmerksamkeit. Die Proteste führten in den USA zum Verbot von polizeilichen Würgegriffen, mehr Rechenschaftspflicht, Polizei-Budget-Kürzungen, Entfernung von Denkmälern rassistischer Personen der US-Geschichte und neuen Bundesgesetzen bzgl. Polizeireform und Rassismus. Jedoch ist die Black Lives Matter Bewegung auch mit Herausforderungen konfrontiert. Eine davon ist die Gegenbewegung „All Lives Matter”. Kritiker:innen sehen das als eine Weigerung sich mit der Realität auseinanderzusetzen und sie zu Verharmlosen.
Trotz Hindernissen, bleibt Black Lives Matter ein wichtiger Bestandteil der antirassistischen Bewegung und hat weltweit zum Nachdenken des strukturellen Rassismus geführt. Die Bewegung hat klar gemacht: Erst, wenn das Leben Schwarzer Menschen gleichermaßen geschützt ist wie das von Weißen, zählt wirklich jedes Leben.
Die wichtigsten Faktoren für eine erfolgreiche politische Bewegung sind Zusammenhalt, ein gemeinsames Ziel — eine gemeinsame Ideologie, Struktur und unendliche Solidarität. Eine klare Ideologie gibt einer politischen Bewegung eine Richtung. Der Gedanke hinter der Arbeiter:innenbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts war zum Beispiel stark vom Gedanken geprägt sich gegen eine kapitalistische Welt vereinen zu müssen. Ein weiteres gutes Beispiel ist die Arbeiterkammer: Entstanden durch enormen Druck der Arbeiter:innenbewegung.
Doch nicht alle Bewegungen bleiben dauerhaft bestehen, dafür gibt es verschiedene Gründe: Interne Konflikte und Machtkämpfe, ideologische Differenzen oder Verlust der einst gemeinsamen Ziele. Ein Beispiel dafür ist die Linke nach der 68er Bewegung: Sie zerfiel. Während einige sich radikalisierten, setzten andere auf parlamentarische Arbeit.
Politische Bewegungen können auch zerfallen, wenn ihr Ziel erreicht wurde. Beispiele dafür sind die Frauenwahlrechtsbewegung, nachdem Frauen* das aktive und passive Wahlrecht erkämpften — in Österreich seit 1918 durchgesetzt, oder die Anti-Atomkraft-Bewegung in Deutschland — der Atomausstieg wurde 2023 vollzogen.
Allerdings muss man auch viele weitere Beispiele beachten, denn oft genug zeigte sich, dass mit dem Erreichen eines Ziels gewisse politische Bewegungen nicht enden und vergessen werden, sondern sich weiterentwickeln— zum Beispiel die Arbeiter:innenbewegung von gerechten Löhnen und fairen Arbeitszeiten.
Um nun zum gemeinsamen Entstehungsmoment politischer Bewegungen zu kommen: Dieser liegt im gemeinsamen, kollektiven Erleben von Ungerechtigkeiten. Ob die Ausbeutung von Arbeiter:innen oder rassistische Polizeigewalt — der Auslöser all dieser Bewegungen sind immer soziale Fragen, die die Menschen vereinen, weil sie erkannt haben, dass sie ein individuelles Problem haben, welches ein Teil von etwas Strukturellem ist. Politische Bewegungen entstehen, wenn Menschen spüren, dass sie zusammen und gemeinsam stärker sind und etwas verändern können und wollen.
Wir leben in einer Welt in der politische Bewegungen nie an Bedeutung verlieren werden, in der politische Bewegungen immer eine entscheidende und große Rolle spielen werden. Der Kampf für Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Solidarität, Feminismus, Klimaschutz und Zufriedenheit wird niemals aufhören, bis das Ziel erreicht wird. Deshalb: Bleibt entschlossen, bleibt solidarisch, stellt euch den Herausforderungen und habt unser gemeinsames Ziel immer vor Augen. Die Geschichte zeigt: Dort wo Unterdrückung und Ungerechtigkeit, wird Widerstand nicht lange auf sich warten lassen.