Neoliberale Demokratietheorie und das Ende der Demokratie
Lina Ehrich
„It will be the end of democracy” oder “Eine Krise der Demokratie kann man nicht wegreden“ – derartige Schlagzeilen scheinen momentan Hochkonjunktur zu haben. Wenn vom „Ende der Demokratie“ die Rede ist, dann wird immer gern betont, dieses Ende sei dem zunehmenden Populismus zuzuschreiben, der sich in Form von Trump, LePen oder Orbán manifestiere und nur zu kontern sei, wenn sich „die wahren Demokrat:innen“ vermehrt zu ihrer Demokratie bekennen würden. Dass diese Analyse aus linker, materialistischer Perspektive nicht genügt, ist angesichts der Tatsache, dass sich durch den Begriff „Populismus“ keine ökonomischen Verhältnisse erklären lassen, selbstverständlich. Man muss diese „Erosion der Demokratie“ und ihre Ursprünge also weiter denken – und trifft dabei recht rasch auf ein bekanntes Gesicht: den Neoliberalismus.
Was ist Neoliberalismus?
„Mehr privat, weniger Staat“ wird wohl eine gern gesehene erste Assoziation mit dem Begriff „Neoliberalismus“ sein. Als nächstes fallen einem dann meist jene politischen Köpfe ein, Margret Thatcher bzw. Ronald Reagan, die diesem Wort in den 1980ern leider sehr viel Leben einhauchten. Durch ihr politisches Programm trugen sie nicht nur dazu bei, die öffentliche Infrastruktur der privaten Profitlogik auszusetzen und dadurch massive Verschlechterungen für alle arbeitenden Menschen herbeizuführen, die Deregulierung am Markt begleiteten sie zudem mit verschärftem Vorgehen gegen Gewerkschaften und somit massiven rechtlichen Einschränkungen der Arbeiter:innen. Doch das politische Programm der Neoliberalen beschäftigt sich nicht nur damit, wie man innerhalb demokratischer Strukturen am besten ausbeuten kann, es geht darüber hinaus auch darum, Demokratie im neoliberalen Sinne aus- bzw.- umzubauen.
Grundlagen der neoliberalen Demokratietheorie
Das neoliberale Demokratiekonzept kann nicht ohne historischen Kontext behandelt werden. Es unterscheidet sich erheblich von seinem Vorgänger, der liberalen Demokratie, die oft mit den Begriffen „politische Repräsentation“ und „Legitimation durch das Volk“ in Verbindung gebracht wird. In dieser Idee der Demokratie geht es also darum, dass die Rechtfertigung für politisches Handeln dadurch gegeben ist, dass alle Teilnehmer:innen des politischen Lebens, sprich alle politischen Subjekte, durch ihre Repräsentant:innen Teil des politischen Entscheidungsprozesses sind.
Die Neoliberale Demokratietheorie unterscheidet sich in bestimmten Punkten erheblich von der liberalen Demokratietheorie, kommt aber dennoch aus der gleichen ideologischen Richtung. Auch für die neoliberale Demokratie ist Repräsentation der Mehrheit ein wichtiges Element, allerdings sollen demokratische Entscheidungen nicht allein politischer Natur sein, vielmehr sei es wichtig, demokratische Prozesse durch „unabhängige“ Institutionen (Zentralbanken, Verfassungsgerichte oder aber auch internationale (Handels-)Abkommen) zu begrenzen, um dadurch garantieren zu können, dass alle Entscheidungen auch wirklich rational zustande kommen und somit dem Willen der Mehrheit dienen.
“Der Rechtsstaat wird zwar als essentieller Teil des Demokratieverständnisses gesehen, doch die zentrale Aufgabe besteht nicht unbedingt darin, die Bürger:innen zu schützen, vielmehr geht es um den Schutz des Eigentums und der Eigentumsrechte.Der Rechtsstaat wird zwar als essentieller Teil des Demokratieverständnisses gesehen, doch die zentrale Aufgabe besteht nicht unbedingt darin, die Bürger:innen zu schützen, vielmehr geht es um den Schutz des Eigentums und der Eigentumsrechte."
Diese vermeintliche Rationalität ist es auch, die ein weiteres Merkmal der neoliberalen Demokratie prägt: Die Marktanalogie in der Politik. Das heißt konkret, dass die Logiken des „freien Marktes“ auch auf das politische System umgelegt werden. Sehr deutlich wird das beim Thema Wahlen, wo von neoliberaler Seite – ähnlich wie beim „freien Wettbewerb“ – die einzelnen Politiker:innen und Parteien wie Ware zu sehen sind, die nach Effizienz und Potenzial rein rational von den Wähler:innen bewertet & „gekauft“ werden. Dass eine solche rationale, ökonomische Entscheidung wahrscheinlich eher nur dem fiktiven homo oeconomicus zuteilwird, und weniger den restlichen 8 Milliarden Menschen, bleibt hier außen vor.
Ein weiteres Argument der Neoliberalen ist jenes der „Stärkung des Rechtsstaates“. Klingt auf den ersten Blick nicht schlecht, fordern doch Linke ebenso die Stärkung/Etablierung des Rechtsstaates, doch wenn man einen genaueren Blick hinter die Kulissen des leeren Wortes richtet, erkennt man das wahre Gesicht dieses Totschlagargumentes. Der Rechtsstaat wird zwar als essentieller Teil des Demokratieverständnisses gesehen, doch die zentrale Aufgabe besteht nicht unbedingt darin, die Bürger:innen zu schützen, vielmehr geht es um den Schutz des Eigentums und der Eigentumsrechte. Wichtig ist zudem, dass ein funktionierender Rechtsstaat die oben beschriebenen „Regeln des freien Marktes“ durchzusetzen vermag – um so die Demokratie des Marktes zu schützen.
Das Anliegen Neoliberaler, Entscheidungen müssen stets rational und auf das Funktionieren des Marktes hin getroffen werden, spiegelt sich auch in den Strukturen der Marktdemokratie wider. Entscheidungsträger:innen müssen demzufolge Expert:innen sein, um tatsächlich rein rational und ohne persönliche Interessen im Interesse der Mehrheit – die zugleich den Markt repräsentiert – zu entscheiden. Dass hierbei eine eigene politische Elite entsteht, ist nebensächlich, denn schließlich kann im neoliberalen Denken ja ohnehin ein jeder oder eine jede durch eigene Kraft in diese politische Elite aufsteigen.
Nicht zuletzt kann dem Neoliberalismus daher guten Gewissens eine Präferenz für den Individualismus zugeschrieben werden. Wir sehen die Auswirkung dessen unter anderem darin, dass unsere Kritik am bestehenden System gerne mit den Worten „Ja, hättest du’s halt anders gemacht“ gekontert wird. Individuelle Entscheidungen seien der Grund für den Erfolg einiger und für das Elend anderer. Diese Logik wird auch in der neoliberalen Demokratietheorie gerne herangezogen, vor allem wenn es darum geht, wie Entscheidungsprozesse gestaltet werden, oder besser: Wo sie gestaltet werden. Aufgrund des Hangs zum Individuellen sieht man Entscheidungen auch lieber dort, wo sie auch ihre Auswirkungen haben – nämlich im kleineren Rahmen. Die neoliberale Demokratie bevorzugt daher Dezentralisierung, also das Abwandern von zentraler Entscheidungsmacht in kleinere Sphären, und lehnt staatliche Eingriffe in solche Entscheidungen grundlegend ab.
Neoliberale Demokratie in der Praxis
Die praktischen Auswirkungen dieser Demokratietheorie erleben wir tagtäglich.
Der Fokus auf der vermeintlichen puren Rationalität von politischen Entscheidungen, die allesamt darauf hinauslaufen, das Geschehen am Markt so gut wie möglich nicht zu stören, führt zu einer massiven Machtkonzentration bei wirtschaftlichen Eliten und Konzernen, die dann infolge tatsächlich politische Entscheidungen treffen. Wichtig ist hier zu betonen, dass diese Situation nicht nur bewusst so herbeigeführt wurde, sondern notwendig ist, damit der Neoliberalismus als solcher überleben kann. Langfristig führt eine derartige Politik dazu, dass faktisch die politische Macht der Bevölkerung begrenzt beziehungsweise ausgehebelt wird, was in keiner Weise mit einer liberalen Demokratie kompatibel ist – doch das wird hier gern gekonnt ignoriert.
Die Konzentration von politischer Macht in den Händen ein paar Einzelner führt unvermeidlich zu Privatisierung in Kernbereichen der Gesellschaft – das klassische Beispiel hierfür ist meist die Privatisierung der National Railway in Großbritannien unter Thatcher – und zu Deregulierung von weiterer kritischer Infrastruktur, wie beispielsweise dem Bildungssystem. Demokratische Kontrolle und dementsprechende Qualitätssicherung wird hier als Fehlschritt interpretiert, störe sie doch den Wettbewerb der besten Ideen für den Abbau von sozialstaatlichen Garantien.
Neoliberale Reformen, wie oben ausführlich gezeigt, haben stets den Anspruch, Prozesse effektiver zu gestalten und dadurch eine „bessere“ Demokratie ins Leben zu rufen. Effektivität bezieht sich in diesem Fall natürlich auf die Möglichkeit des Marktes, Wettbewerb zu schaffen. Demokratie ist jedoch – zumindest in der liberalen Form – kein schneller Prozess. Wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen, sind nicht nur Politiker:innen am Zug, sondern eben auch weitere Institutionen, wie NGO’s, Sozialpartner:innen oder Verfassungsgerichte. Diese Institutionen sichern – zumindest in einer utopischen Theorie der liberalen Demokratie – das Funktionieren dieses Konzeptes ganz allgemein, aber vor allem sichern sie demokratische Kontrolle und Legitimation von Entscheidungen. Möchte man solche Mechanismen abschaffen, so führt das unweigerlich zu einer Aushöhlung der Demokratie und einer Etablierung von neoliberalem Illiberalismus.
Der politische Handlungsspielraum wird aber in der neoliberalen Theorie auch durch supranationale und internationale Abkommen beschränkt, die allesamt – oft unter dem Deckmantel einer kolonialistischen Idee der Demokratisierung der anderen – den einzigen Sinn und Zweck darin haben, dass dadurch die wirtschaftlichen Freiräume noch größer werden, um den eigenen Profit zu steigern. Das Problem an diesen Mechanismen ist oft, dass sie durch ihre erstmalige Etablierung schwierig zu kontern sind und so folgende Regierungen immer weiter in die Logik des Marktes hineinziehen. Die politische Souveränität muss hier der Souveränität des Marktes Stück für Stück Platz machen, und die Demokratie der Mehrheit der Demokratie des Marktes.
Unterm Strich möchte die neoliberale Demokratie also Prozesse vereinfachen, indem sie den Handlungsspielraum der Menschen begrenzt und nach einem zwingenden Rationalitätsprinzip ausrichtet, das ja ohnehin immer „das Interesse des Volkes“ repräsentiere. Im Zuge dessen wird anderen politischen Playern (Zentralbanken, Handelsabkommen, Gerichtshöfen, …) ein Machtspielraum zuteil, der allerdings – wer hätte das gedacht – weniger „den Menschen“ zugutekommt als schlichtweg privaten Investoren/Geldgebern. Dass gerade dieses System nicht wirklich förderlich für sozialen Zusammenhalt/Solidarität ist, zeigt sich unter anderem in der Verschärfung sozialer Ungleichheit, der immer größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich – und auf dem politischen Spektrum auch im schwindenden Vertrauen in politische Institutionen wie Parteien oder gewählte Funktionäre.
Alternativen bieten
Als Linke wissen wir, dass Demokratie anders geht. Eine linke Demokratietheorie trägt nicht die Handschrift ein paar weniger Konzerne, sie ist geprägt von echter Teilhabe am politischen Geschehen, fairer Umverteilung und Sozialer Gerechtigkeit. Dass natürlich auch linke Demokratietheorien nicht eine einheitliche Agenda verfolgen, erklärt sich in Anbetracht der Geschichte der Linken praktisch von selbst. Konkrete Unterschiede und Gemeinsamkeiten werden in dieser Ausgabe allerdings in Jasmins Text behandelt – kleine Empfehlung zum Schluss.
Verwendete Quellen
Biebricher, Die politische Theorie des Neoliberalismus
Biebricher, Der Staat des Neoliberalismus.
Biebricher, Neoliberalismus und Staat – ziemlich beste Feinde?
Birgit Sauer & Otto Penz. Konjunktur der Männlichkeit.
Birgit Sauer, Neoliberalisierung von Staatlichkeit. Geschlechterkritische Überlegungen.
Bob Jessop, Neoliberalismen, kritische politische Ökonomie und neoliberale Staaten.
Crouch, Postdemokratie.
Fukuyama, The End of History.
Jamie Peck, Pushing Austerity: Staatsversagen, bankrotte Kommunen und die Krisen des fiskalischen Föderalismus in den Vereinigten Staaten.
Loic Wacquant, Der neoliberale Leviathan. Eine historische Anthropologie des gegenwärtigen Gesellschaftsregimes
Mason, Postkapitalismus.