Die Neutralität aus rechtlicher Perspektive
Philipp Kaiser, Fiona Schindl
Die Neutralität ist ein identitätsstiftendes Merkmal des österreichischen Selbstverständnisses. So nutzte Bruno Kreisky das durch ihn eingefädelte Gipfeltreffen 1961 zwischen John F. Kennedy und Nikita Chruschtschows, um den Grundstein für die internationale Rolle Österreichs zu legen. Spätestens mit der Eröffnung der UNO City 1979 kann sein Projekt als abgeschlossen betrachtet werden.
Kreisky argumentierte schon damals, dass dies alles nur durch die “immerwährende Neutralität” möglich gewesen wäre. Die Internationale Atomkonferenz 2018 bzw. die umstrittene europäische Gaskonferenz 2023 sind lebende Beispiele für die diplomatische Bedeutung, die Österreich bis heute hat. Doch woher kommt diese Neutralität tatsächlich? Haben die Gesetzgeber von 1955 sich tatsächlich aus freien Stücken zu dieser Neutralität bekannt oder war der Druck durch die Alliierten doch spürbarer als oftmals behauptet?
„... zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebiets erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität.“, heißt es in Art 1 Abs 1 des Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 über die Neutralität Österreichs. Zwar wurde bereits in den Frühphasen der Nachkriegszeit über eine österreichische Neutralität (vor allem durch Karl Renner) diskutiert, jedoch war damals die Ausrichtung Österreichs als westlicher Staat die vorherrschende Auffassung. Auch Bruno Kreisky trat in den ersten Phasen der Staatsvertragsverhandlungen für eine Bündnisfreiheit, anstatt der Neutralität ein, doch musste auch er auf Verlangen des sowjetischen Außenministers Molotow von dieser Bestrebung Abstand nehmen.[1]
Mit dem Scheitern der Berliner Konferenz zur Lösung der Deutschland- und der Österreich- Frage[2] 1954 wurde im Zuge der Staatsvertragsverhandlungen der Weg zur österreichischen Neutralität begründet. Leopold Figl und Bruno Kreisky schlugen in Berlin zum ersten Mal vor „... keinen militärischen Bündnissen beizutreten und militärische Stützpunkte auf seinem [österreichischen] Gebiet zuzulassen ...“[3] Diese Neutralität sollte nach dem Vorbild der Schweizer Neutralitätspraxis ausgestaltet werden und implizierte die Verhinderung eines neuerlichen Anschlusses. Mit diesem – im Moskauer Memorandum festgeschriebenen – Zugeständnis wurde der Weg für die Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages am 15. Mai 1955 im Wiener Belvedere gelegt.
Fraglich bleibt die Bedeutung der Wortfolge „aus freien Stücken“; Selbstverständlich war es der von der Alliierten Kommission freie und selbstbestimmte Österreichische Nationalrat[4], der am 26. Oktober 1955 das Neutralitätsgesetz beschloss, doch kann die – durch das Moskauer Memorandum[5] vereinbarte – Verpflichtung Österreichs zur Neutralität nicht übersehen werden.
“Mit der Möglichkeit der ‘Auflösung’ der österreichischen Neutralität stellt sich natürlich die Frage nach der Bedeutung der „immerwährenden“ Neutralität. Auf diese Frage liefern uns bereits die parlamentarischen Materialien von 1955 eine Antwort.”
Mit dem Beschluss und der darauffolgenden Notifikation des Neutralitätsgesetzes gegenüber allen Staaten, mit denen Österreich diplomatische Beziehungen unterhielt, erkannten jene Staaten die österreichische Position an[6]. (An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass heute mehrheitlich angenommen wird, dass die Republik Österreich einseitig und freiwillig den anderen Staaten “ihre” Neutralität erklärt hat und genauso einseitig davon wieder abgehen könnte.)
Mit der Möglichkeit der „Auflösung“ der österreichischen Neutralität stellt sich natürlich die Frage nach der Bedeutung der „immerwährenden“ Neutralität. Auf diese Frage liefern uns bereits die parlamentarischen Materialien von 1955 eine Antwort. „Der dauernd neutrale Staat ist verpflichtet die Unversehrtheit seines Staatsgebietes gegen Angriffe von außen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen; die dauernde Neutralität ist somit meist auch eine bewaffnete Neutralität. Der dauernd neutrale Staat ist verpflichtet, keine Bindungen einzugehen, die ihn in einen Krieg verwickeln könnten. Er darf daher keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiet nicht zulassen. Bei allen Kriegen zwischen anderen Staaten hat der dauernd neutrale Staat – so wie die anderen nur in dem betreffenden Krieg neutrale Staaten – die Normen des völkerrechtlichen Neutralitätsrechtes zu beobachten“[7]
Im Ergebnis ist das Neutralitätsgesetz so zu verstehen, dass Österreich in jedem (Kriegs-)Fall militärisch neutral handeln wird und nicht in jeder Situation seine Neutralität einzeln erneut erklärt. Festgehalten wird auch in den Erläuterungen der Regierungsvorlage, dass die Schweiz ihre Neutralität nach demselben Sinn handhabe, womit die Frage bleibt, wie die Schweizer Neutralitätspraxis im österreichischen Sinne zu verstehen ist.
Klar ist durch die Formulierung der Materialien und des Gesetzes, dass bereits in den fünfziger Jahren die Neutralität lediglich im militärischen Sinne zu verstehen war. Die Schweizer Neutralität baut nicht wie die österreichische auf die Praxis eines anderen Staates auf, viel mehr findet sie sich in ihrer eigenen Geschichte. Alfred Verdoss verortet 1958 die Anfänge der schweizerischen Regelungen im Gefüge des 16. Jahrhunderts, bevor sie im Wiener Kongress völkerrechtlich verankert wurde. Mit der Veröffentlichung durch das Politische Departement[8] der Schweiz über den Begriff der Neutralität 1954 wird endgültig der Umgang jener Eidgenossenschaft mit ihrer Neutralität klargestellt. In diesem Dokument wird die gewöhnliche, die ständige, sowie die für Österreich relevante dauernde Neutralität erläutert. Als Bestandteil der Rechte und Pflichten ist die Verpflichtung keinen Krieg zu beginnen, sowie die Wahrung der Neutralität bzw. die Verteidigung der Unabhängigkeit zu nennen. Als dritter Punkt sind die sekundären Pflichten anzuführen, welche am besten damit zusammengefasst sind, dass ein „dauernd neutraler Staat alles zu tun hat, damit er nicht in einen Krieg hineingezogen wird und alles zu unterlassen hat, was ihn in einen Krieg hineinziehen könnte.“[9]
In den Nachkriegsjahren bis in die späten 80er war ein Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in den Augen der österreichischen Gesellschaft, Politik und Lehre mit der Neutralität unvereinbar.
Schon als außenpolitische Berater von Bundespräsident Körner erkannte Bruno Kreisky jedoch, dass die europäische Integration zukünftig von großer Bedeutung sein werde. Zunächst wurde 1960 die EFTA als Freihandelszone zwischen Österreich, Portugal, der Schweiz, Dänemark, Schweden und dem Vereinigten Königreich gegründet. Neutralitäts-technisch war dieser Schritt unproblematisch, da es sich um ein reines Wirtschaftsbündnis handelte, das bis heute auch zunehmend an Bedeutung verloren hat.
1989 wurde aufgrund der veränderten politischen Lage schließlich der Beitrittsantrag gestellt. Die Volksabstimmung, die aufgrund einer “Gesamtänderung der Verfassungsprinzipien” (zu denen die Neutralität nicht zählt) abzuhalten war, fiel positiv aus. Eine Erwähnung oder gar Absicherung der Neutralität fehlt im Beitrittsvertrag, stattdessen gibt es eine Gemeinsame Erklärung zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), nach der sich Österreich verpflichtet, sich an dieser in vollem Umfang und aktiv zu beteiligen. Die GASP wurde im Vertrag von Maastricht als eine der 3 Säulen der Europäischen Gemeinschaft errichtet, in der Verfassung schaffte man Platz für die Mitwirkung an dieser in Form von wirtschaftlichen Sanktionen, polizeilichen und militärischen Aktivitäten (heutiger Art. 23j B-VG). Die Entscheidung über den Einsatz solcher Aktivitäten wird im Rat (einstimmig, also mit Veto-Möglichkeit auch für Österreich) getroffen, trotzdem herrscht Konsens, dass dieser Artikel die Neutralität in ihrer Reichweite einschränkt. Als “lex posterior et specialis” (“späteres und spezifischeres Gesetz”) derogiert (also: verdrängt) der Artikel nämlich streng genommen das Neutralitätsgesetz.
Relevant ist auch der Vertrag von Lissabon (2009). Mit ihm änderte sich vieles an den Strukturen der EU, die Säulenstruktur etwa wurde abgeschafft. Die GASP blieb jedoch als Bestandteil der EU-Kompetenzen erhalten und erhielt sogar ihr eigenes Organ, den Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik. Dieser soll zwar ein geeintes Auftreten vermitteln, ist allerdings weiterhin von der Einstimmigkeit im Rat abhängig. Hervorzuheben sind die im neu verabschiedeten Vertrag über die EU (EUV) enthaltene “Irische Klausel” (Art 42 Abs 2 und 7 EUV) sowie die “Beistandsklausel”. Diese besagen, dass der “besondere Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten” von EU-Politik nicht berührt wird, und, dass im Falle eines bewaffneten Angriffs auf einen Mitgliedsstaat die anderen Mitgliedsstaaten zu aller in ihrer Macht stehenden Unterstützung verpflichtet sind. Formal gesehen kann sich Österreich neben den anderen neutralen MS (zB das namensgebende Irland) von den Verpflichtungen der GASP befreien. In Gesetzesmaterialien zu den Normen finden sich auch Verweise auf die Neutralität, so wird etwa betont, dass selbst über Form und Umfang von Unterstützung in Konflikten entschieden werden kann und dass die militärische Neutralität zu respektieren sei. Allerdings sind EU-Sanktionen von Österreich vollinhaltlich umzusetzen. Ebenso ist eine Beteiligung an friedenserhaltenden Aufgaben und Kampfeinsätzen problemlos möglich. In Summe ist es also fraglich, ob eine Berufung auf die Neutralität politisch “durchgehen” würde, wird Österreich ja schon jetzt eine “Trittbrettfahrerrolle” nachgesagt.
"In Summe ist es also fraglich, ob eine Berufung auf die Neutralität politisch “durchgehen” würde, wird Österreich ja schon jetzt eine “Trittbrettfahrerrolle” nachgesagt."
Von der EU nicht weit entfernt ist in diesem Zusammenhang auch die Frage nach einem möglichen NATO Beitritt Österreichs, die hier aber nur kurz behandelt wird. Österreich ist seit 1994 bereits Mitglied der NATO Partnerschaft für den Frieden. Artikel 1 Abs. 2 des Neutralitätsgesetzes bestimmt allerdings, dass “Österreich [] keinen militärischen Bündnissen beitreten” wird. Ob die EU aufgrund der Beistandsklausel bereits als ein solches eingestuft werden kann, wird von Verfassungsjuristen eher verneint. 22 der 27 EU MS sind ebenfalls NATO-Mitglieder und ziehen daher ihre kollektiven Verteidigungspflichten vorrangig aus dieser Mitgliedschaft. Dies erkennt auch das EU-Recht an, weshalb die Lehre zum Schluss kommt, dass die EU kein Verteidigungsbündnis im gleichen Sinne darstellt. Im Umkehrschluss ist die NATO eindeutig ein Militärbündnis, das mit der Neutralität, wie sie heute in dem Verfassungsgesetz steht, unvereinbar wäre.
Was uns zur Frage führt, wie die Neutralität heute ausgestaltet ist. Noch bevor sich der Lissabonvertrag auf diese ausgewirkt hat, gab es de facto Einschränkungen, die allerdings durch die Auffassung, die Neutralität sei eine “differentielle”, nicht als solche gesehen wurden.
So wurde beispielsweise 1991 der §320 des Strafgesetzbuchs “Neutralitätsverletzung” um einen 2. Absatz ergänzt: eine Freiheitsstrafe zwischen 6 Monaten und 5 Jahren war seitdem nicht zu verhängen, wenn “der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen [...] militärische Maßnahmen [...] zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit beschließt.” Diese Änderung geschah im Zuge des Golfkrieges, der somit nicht als internationaler bewaffneter Konflikt interpretiert wurde. Dieser Abs 2 wurde bis 2002 weiter ausgeweitet, so dass heute ein UN-Sicherheitsratsmandat nicht mehr notwendig ist, um “Maßnahmen sonstiger Friedensaktionen” von der Strafbarkeit auszuschließen. Außerdem wurde das Delikt “Verbotene Unterstützung von Parteien bewaffneter Konflikte” umbenannt. Dies erweckt den Anschein, dass die Neutralität einerseits immer enger verstanden wird, und andererseits vom Gesetzgeber nicht allzu oft namentlich auf sie hingewiesen werden will.
In einer Phase der “Reorientierung”, wurde die Neutralität bis in die frühen 2000er “auf ihren militärischen Kern reduziert”. 9/11 und die Kosovo Intervention der NATO führten zu erhöhter Zustimmung und Priorisierung der Neutralität. Bis zum Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine sind die Debatten um die Neutralität mehr oder weniger verstummt. Diese Phase der Stagnation ist jetzt möglicherweise vorbei, was die Diskussion über die Zukunft und die Ausgestaltung der Neutralität notwendig macht, womit sich die Frage stellt, wie wir Sozialist*innen uns in dieser Diskussion positionieren.
Klar ist, dass wir uns aus unserer antimilitaristischen Tradition heraus für die Beibehaltung der österreichischen Neutralität einsetzen. Die Bündnisfreiheit - von der Bruno Kreisky bereits 1954 sprach -, die Versagung von Stationierung fremder Truppen, sowie dem Bekenntnis keinem Krieg oder militärischen Konflikt beizutreten, erscheinen als geeignete Maßnahmen, um der Militarisierung in Österreich entgegenzutreten. Die Neutralität gibt uns seit über 68 Jahren die Möglichkeit, Konflikte anderer Parteien zu begleiten und durch unsere vermittelnde Rolle Situationen zu entschärfen. Es liegt an uns, auf diese Möglichkeit aufmerksam zu machen. Die österreichische Neutralität sollte heute mehr denn je viel weiter gedacht werden. Im militärischen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine könnte es Österreichs Rolle sein, vermittelnd aufzutreten. Die Aufnahme von Kriegsgefangenen - beider Seiten - wäre nur eines von vielen Angeboten, das wir an die Konfliktparteien stellen könnten.
Anmerkungen
[1] Dazu genauer: Bruno Kreisky über die Neutralität bei den Verhandlungen in Moskau im April 1955 https://www.mediathek.at/katalogsuche/suche/detail/?pool=BWEB&uid=12FE5FA0-30F-00238-00000AD8-12FD8E35&cHash=922552d8ea30a82cadb0ecfeaa18820d (abgerufen 27.04.23)
[2] Dazu genauer: Ansprachen Bruno Pittermanns und Alfons Gorbach zum Scheitern der Österreichischen Staatsvertragsverhandlungen 1954: https://www.mediathek.at/staatsvertrag/zum-staatsvertrag/1954/ (abgerufen 27.04.23)
[3] Punkt 1.) des Moskauer Memorandums. April 1955
[4] vgl. dazu ErlRV 589 BlgNR VII. GP, 4.
[5] Alfred Verdoss (Völkerrechter, Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät, Rektor der Universität Wien) sah schon im Moskauer Memorandum eine völkerrechtliche Verpflichtung der Republik Österreich zur Festsetzung eines neutralen Status; vgl. dazu: Zur Klassifizierung des Moskauer Memorandums als „Staatsvertrag“: Kunz, Austrians Permanent Neutrality, 1956, 421-422 in: American Journal of International Law; bzw. als Verpflichtung der Regierungsmitglieder als Einzelpersonen: Verdross, Neutralität der Republik, 1958, 11.
[6] Wie diese Notifikation völkerrechtlich zu bewerten ist, bleibt weitgehend umstritten. Fest steht, dass diese Notifikation als zusätzliches grundlegendes Bekenntnis zur österreichischen neutralen Position (und als Vorbereitungsmaßnahme für den Beitritt zur UNO) gesehen werden kann.
[7] ErlRV 589 BlgNR VII. GP, 3.
[8] Das Politische Departement bezeichnet das Schweizer Außenministerium.
[9] Neutralitätskonzept der Schweiz vom 26.11.1954, abrufbar unter: www.dodis.ch/9564 (abgerufen am 27.04.23)