Die Geschichte mit der Moral
Die Einordnung von imperialistischen Kriegen in den geopolitischen Kontext ist eine wesentliche Aufgabe, um politische Strategien für den Frieden zu entwickeln. Verläuft diese Einordnung nach einem vorgefertigten Freund-Feind-Schema, droht jedoch die Gefahr der Verwässerung. Schafft die polit-mediale Landschaft Österreichs diese Einordnung? Beispiele lassen zweifelnd zurück.
Der Morgen des 24. Februar 2022 sollte ein einschneidender Punkt in der jüngeren Geschichte Europas werden. Mit dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine kehrte das Schrecken des Krieges auf den europäischen Kontinent zurück, das bis zum heutigen Tage anhält. Die vergangenen Monate in der Ukraine haben bewiesen, warum Kriege als eine der grausamsten Ausprägungen der menschlichen Zivilisation bekannt sind.
Dabei darf von Beginn weg ein Punkt nicht außer Acht gelassen werden. Im Krieg der Reichen und Mächtigen, die sich mit imperialen Machtfantasien umgeben, sind es vor allem die arbeitenden Menschen, die die Lasten zu spüren bekommen. Unzählige Menschen verloren im Bombenhagel ihr Leben, Millionen andere mussten aus den Kriegsgebieten in der Ukraine fliehen, an der Front stehen junge Soldaten, die gezwungen sind, ihr Leben in einem sinnlosen Krieg aufs Spiel zu setzen. Bei all den grausamen Bildern und Meldungen setzt sich die Erkenntnis durch, dass jeder Tag im Krieg einer zu viel ist. Oder wie es Willy Brandt einst treffend formulierte: Frieden ist nicht alles - aber ohne Frieden ist alles nichts.
Einstehen für Frieden als Kniefall vor Putin? Mitnichten
Für diesen Frieden einzustehen, gestaltete sich in der aufgeheizten Debatte der vergangenen Monate als schwierig. Besonders Personen aus sozialistischen und sozialdemokratischen Organisationen wurde von bürgerlicher Seite mit zum Teil absurden Begründungen vorgeworfen, in einem Nahe- und Sympathieverhältnis zum russischen Autoritarismus zu stehen. Dabei gilt es vielmehr festzuhalten: Es ist in keinster Weise ein Widerspruch, den Angriffskrieg Putins aufs Schärfste zu verurteilen und dabei gleichzeitig die politische Notwendigkeit einer friedenssichernden Perspektive anzustreben.
Selbstverständlich kann, soll und darf aus Österreich keine Kapitulation mit anschließendem Frieden zu welchen Bedingungen auch immer diktiert oder ohne Anbindung an lokale Kräfte eingefordert werden. Genauso wenig gibt es ein Geheimrezept, wie man imperialistischen Autokraten im bereits eingetretenen Kriegsfall begegnen soll, um diese Ansprüche zu erfüllen. Umgekehrt gilt dies aber auch für all jene, die von warmen Schreibtischen in Österreich aus ausrichten, dass jeder Kommunikationskanal zur russischen Regierung ein Verrat an vermeintlichen “westlichen Werten” wäre und umgehend eingestellt werden müsse. Alleine das Äußern des Wunsches nach Frieden wird als Putinismus abgetan.
“Jene Kommentatoren, die den Frieden und Gespräche als träumerische Illusion einfordern, mögen auch betonen, was die unweigerliche Konsequenz dieser Forderung ist. Nämlich ein womöglich jahrelanger Stellungskrieg.”
Jene Kommentatoren, die den Frieden und Gespräche als träumerische Illusion einfordern, mögen auch betonen, was die unweigerliche Konsequenz dieser Forderung ist. Nämlich ein womöglich jahrelanger Stellungskrieg, der von allen Seiten mit schweren Waffen geführt wird und zur Folge hat, dass das gesamte Land in Schutt und Asche gelegt wird, unzählige Menschen ihr Leben und noch viele mehr ihre Heimat verlieren. Was die Konsequenz daraus ist, kann aktuell in einigen arabischen Staaten wie in Syrien beobachtet werden. Abseits davon darf auch die mögliche innenpolitische Agenda (Stichworte: Integration Österreichs in die Strukturen des Militärbündnis NATO, Aufgabe der militärischen Neutralität, Aufrüstung des österreichischen Bundesheers) einzelner Akteur*innen nicht aus dem Hinterkopf verdrängt werden.
Kriege als Folge geopolitischer Dynamik
Das Streben nach Frieden darf daher in keinster Weise in einem Automatismus mit einem Kniefall vor Autokratien gleichgesetzt werden. Im Gegenteil: Es setzt einem moralisierenden Standard, der oft den Anschein erweckt, Menschen als reines Zahlenmaterial zu sehen, eine politische Handlungsanweisung aufbauend auf realen Ereignissen und Perspektiven entgegen. Denn auch der Krieg in der Ukraine ist nicht die plötzliche Eskalation und die Wahnsinnstat eines irren Regierungschefs, sondern das Ergebnis eines geopolitischen Konfliktes, der sich seit Jahrzehnten anbahnt und sich nun auf verbrecherische - aber in der Art der Geschehnisse wenig überraschende Art - entlädt.
Nachhaltige Friedenspolitik kann den Krieg in der Ukraine nicht wie von Zauberhand beenden. Doch sie kann Voraussetzungen schaffen, um Situationen, die sich in Kriegen entladen können, zu minimieren. Dazu zählt etwa die Vermeidung eines imperialen Denkens, das als primäres Ziel die Ausweitung der eigenen geopolitischen Einflusssphäre auf Kosten anderer sieht. Auf der anderen Seite bedeutet das jedoch auch, die wirtschaftliche Abhängigkeit von Autokratien zu minimieren. Das würde einerseits den Vorteil haben, im Kriegsfall nicht plötzlich händeringend nach Alternativen suchen zu müssen, was aktuell am Beispiel des russischen Erdgases sichtbar wurde. Andererseits verhindert es auch, dass jene diktatorischen Staaten zu globalen Playern aufsteigen, die wiederum eigene imperiale Logiken verfolgen, wie dies etwa in den vergangenen Jahrzehnten mit Saudi-Arabien passierte. Gerade das letztgenannte Beispiel verdeutlicht jedoch auch eine gewisse Doppelmoral westlicher Staaten, die sich bei näherer Betrachtung weiter manifestiert.
Westliche Doppelmoral bei Krieg und Frieden
Viele westliche Staaten wenden sich zum aktuellen Zeitpunkt auf allen Ebenen (zurecht) vom russischen Regime ab. Argumentiert wird dies meist mit moralischen Argumenten. Der Krieg in der Ukraine habe gezeigt, dass die russische Regierung ein Unrechtsregime sei. Diese Aussage ist zwar keineswegs falsch, die Argumentation dahinter jedoch mehr als nur scheinheilig. Denn die Wesenszüge der russischen Regierung waren bereits vor der Invasion der Ukraine deutlich erkennbar. Weder das Wegsperren der Opposition noch vermutete Giftanschläge auf Regierungskritiker und auch nicht die Kriege in Tschetschenien oder Georgien haben westliche Regierungen daran gehindert, billiges russisches Gas einzukaufen oder sich dem Kreml anzubiedern. Erst die Kollision mit unmittelbaren strategischen Interessen in der Ukraine führte zu einem Schwall an Sanktionen mit medial begleiteter, oben beschriebener Dynamik. Warum diese erst durch den Überfall auf die Ukraine, nicht aber beispielsweise durch die anderen von Putin verursachten Kriege herbeigeführt wurde, bleibt eine berechtigte Frage.
Das zeigt die erste Erkenntnis der westlichen Doppelmoral, die sich jedoch nicht nur auf die Länder des Westens beschränkt, sondern in jedem geopolitischen Block, der nach Ausdehnung des eigenen Herrschaftsbereichs strebt, sichtbar wird: Menschenrechtsverletzungen, diktatorische Regierungsformen oder ähnliche Grausamkeiten sind für westliche Regierungen und den bürgerlichen Medienapparat kein Problem, solange sie sich nicht unmittelbar gegen den eigenen geopolitischen Interessenbereich richten.
“Die zweite Erkenntnis der westlichen Doppelmoral ist daher, dass nicht nur Kriege und militärische Interventionen von Staaten aus konkurrierenden Lagern hingenommen werden, solange sie den eigenen Interessen nicht widersprechen, sondern dass diese Strategien auch selbst geduldet und praktiziert werden, um den eigenen Einfluss auszudehnen.”
Doch damit ist das Ende des moralischen Dilemmas noch nicht erreicht. Denn ein gänzlich anderes Maß bei der Betrachtung von Kriegen, militärischen Interventionen oder Menschenrechtsverletzungen von Machthabern aus dem “eigenen geopolitischen Block” angewandt. So kann der türkische Präsident Erdogan in aller Ruhe kurdisch besiedelte Gebiete in Nordsyrien und im Nordirak bombardieren, solange er als strategisch wichtiger Partner der EU in Asylfragen den Prellbock abgibt. Ebenso gänzlich ohne politische Konsequenz bleibt der Krieg Saudi-Arabiens, einem Land, in dem die Rechte von Frauen oder sexuellen Minderheiten dazu mit Füßen getreten werden, im Jemen. Doch nicht nur Vasallen der westlichen Welt üben Taten wie diese aus, um den Einfluss des eigenen geopolitischen Blocks zu erweitern. Auch die USA und europäische Staaten waren in den letzten Jahrzehnten vorne mit dabei, wenn es darum ging, (gewählte) Regierungen abzusetzen, falls sie den geostrategischen Interessen der westlichen Welt widersprechen sollten.
Die zweite Erkenntnis der westlichen Doppelmoral ist daher, dass nicht nur Kriege und militärische Interventionen von Staaten aus konkurrierenden Lagern hingenommen werden, solange sie den eigenen Interessen nicht widersprechen, sondern dass diese Strategien auch selbst geduldet und praktiziert werden, um den eigenen Einfluss auszudehnen. Die moralischen Standards, gerne auch als “westliche Werte” tituliert, die Politik und Teile der Medienwelt gerne anwenden, wenn es gerade in die Situation passt, sind in diesen Fällen plötzlich weniger wichtig geworden.
Doppelte Standards ablegen - Friedenspolitische Perspektive schaffen
Für uns als Sozialist*innen verdeutlicht das die Notwendigkeit einer klaren Kante in der Analyse. Es darf in der Bewertung keinen Unterschied machen, ob der Aggressor aus dem eigenen oder einem konkurrierenden Block kommt. Oberste Prämisse muss sein, dass imperialistische Kriege als Phänomen machtstrategischer Ausdehnungen der Vergangenheit angehören. Das ist der zentrale Unterschied zwischen kapitalistischer Geopolitik und sozialistischer Friedenspolitik.
Gleichzeitig ergibt sich daraus für die arbeitende Bevölkerung der Handlungsauftrag, nationenübergreifend die (insofern vorhandene) herrschende Klasse des jeweils eigenen Staates zu einer antiimperialistischen Politik zu zwingen. Diese zu führende Klassenauseinandersetzung ist der einzige Weg, um langfristig in einer Welt ohne Imperialismus und Angriffskriegen, wie jener Russlands in der Ukraine, leben zu können. Zu einem Auftrag wie diesem gehören viele Teilbereiche dazu. Das bürgerliche Phänomen des Auspackens einer moralischen Keule, wenn sie gerade in die eigene Agenda zu passen scheint, gehört nicht dazu.