Der Marxismus als Grundlage der österreichischen Sozialdemokratie
Paul Stich
Mit der Wahl von Andreas Babler zum Parteichef der SPÖ rückte der Begriff des ´Marxismus´ zurück in die öffentliche Debatte. Während bürgerliche Medien Schreckensszenarien verbreiten, galt lange Jahre eine Devise als Credo: Wir wissen, wohin wir gehen, weil wir wissen, woher wir kommen. Große Erfolge der Sozialdemokratie in Österreich, gar die Existenz der gesamten Partei, stehen auf dem Fundament marxistischer Erkenntnisse.
“Die Sozialdemokratische Partei Deutschösterreichs [SDAP], gestützt auf die Lehren des wissenschaftlichen Sozialismus (...) führt den Befreiungskampf der Arbeiterklasse und setzt ihm als Ziel die Überwindung der kapitalistischen, den Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung.” Was auf den ersten Blick wie der Anreißer einer Kampfschrift klingen mag, ist in Wahrheit der Beginn des Linzer Programms. Jenes Parteiprogramm, das am Parteitag 1926 in Linz beschlossen wurde. Es gilt als Herzstück der austromarxistischen Überlegungen zur politischen Überwindung des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems.
Während in heutigen Zeiten gefühlt alle Politiker*innen der SPÖ in Interviews gefragt werden, ob sie denn nun Marxist*innen seien oder nicht, hätte diese Frage viele Jahre lang Irritationen ausgelöst. Eine Sozialdemokratie ohne grundlegende Analysen, die auf die Theorien von Marx aufbauen, war undenkbar. Trotz der Scheu dies zu benennen, sind einige zentrale Erkenntnisse von Marx bis heute zentrale Bausteine der politischen Analyse der SPÖ. Darunter fällt etwa die Tatsache, dass die Gesellschaft aus zwei Klassen besteht oder der Reichtum von einigen Wenigen dadurch entsteht, dass einige Wenige nicht den Lohn bekommen, der ihnen durch ihre Wertschöpfung eigentlich zustehen würde.
Die Vertreter*innen des Austromarxismus, einer Strömung, die sich in Österreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts etablierte, entwickelten die marxistischen Ideen über die Laufe der Jahre weiter und passten sie an die wirtschaftlichen und politischen Umstände der Gegenwart an und schufen damit die Grundlage für das Wirken der Sozialdemokratie in Österreich.
“Während sich in vielen anderen Ländern Europas die Sozialdemokratie im Zuge der Auseinandersetzungen des Ersten Weltkriegs und den entsprechenden staatlichen Umwälzungen in eine reformistische und eine revolutionäre Partei spaltete, gelang es der SDAP, die Einheit der Partei zu wahren.”
Die Grundbedingung der Einheit
Während sich in vielen anderen Ländern Europas die Sozialdemokratie im Zuge der Auseinandersetzungen des Ersten Weltkriegs und den entsprechenden staatlichen Umwälzungen in eine reformistische und eine revolutionäre Partei spaltete, gelang es der SDAP, die Einheit der Partei zu wahren. Dies hatte vor allem auf zwei Ebenen Auswirkungen. Zum einen sorgte es dafür, dass sich die SDAP inhaltlich zwischen den beiden Polen positionierte und durch die Schaffung von demokratischen Mehrheiten den Weg zum Sozialismus beschreiten wollte (was durch den gegebenen Rahmen der bürgerlichen Demokratie zumindest gemäß des staatlichen Rahmens als möglich erschien).
Zum anderen war diese Einheit auch die Grundlage dafür, dass sich diese demokratischen Mehrheiten überhaupt bilden ließen. Während die Arbeiterbewegung in anderen Ländern durch ihre Spaltung in Konflikte verfiel und teilweise gegeneinander arbeitete (so wurde die Sozialdemokratie ab Mitte der 1920er von der Kommunistischen Internationale im Zuge der Etablierung der “Sozialfaschismusthese” als der linke Flügel des Faschismus angesehen und entsprechend bekämpft. Diese Tendenz war auch in Österreich spürbar, jedoch kaum von Relevanz - die KPÖ blieb über die gesamte Dauer der Ersten Republik ein Randphänomen), gelang es in Österreich, diese Kraft der Bewegung in politische Energie umzumünzen.
Das Verhältnis von Demokratie und Diktatur
Die erkämpften Errungenschaften der SDAP im Jahr 1918 und davor - etwa der Aufbau eines demokratischen Ordnungssystems mit allgemeinem, gleichem und freien Wahlrecht für Männer und Frauen - schuf überhaupt die Gelegenheit für den Aufbau einer gesetzlich legitimierten Massenpartei, die im Sinne des austromarxistischen Gedankens arbeiten konnte. Der Übergang zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung sollte, auf den Gedanken der Mehrheitsfindung aufbauend, durch parlamentarische Mehrheiten erfolgen. Nur für den Fall, dass sich die bürgerliche Klasse gegen die durch Wahlen legitimierte Machtübernahme mit Mitteln der Diktatur wehren würde, sollte Waffengewalt eingesetzt werden.
Der Vorwurf, dass der austromarxistische Weg dazu geführt hätte, die Macht zwangsläufig mit Waffengewalt an sich zu reißen, ist daher nichts als eine Verleumdung derjeniger, die in den 1930er Jahren selten ein Problem damit hatten, dass auch in Österreich faschistische Regimes im Interesse des Kapitals Parlamentarismus und Demokratie abschafften. Bruno Kreisky, damals Jugendfunktionär der seit 1934 verbotenen Partei, stand 1936 im sogenannten “Sozialistenprozess” aufgrund seiner politischen Aktivitäten vor Gericht und soll diese Überzeugung folgendermaßen formuliert haben. “Man nennt uns Marxisten, aber nirgends steht, dass man darunter blutige Gewalt versteht. Revolution heißt Umwälzung, Mittel der Gewalt sind dazu nicht notwendig.”
Die Idee des Neuen Menschen
Im Gegensatz zu anderen Strömungen waren austromarxistische Theoretiker*innen überzeugt, dass der Weg zu einer neuen Gesellschaftsordnung ohne folgende staatliche Zwänge nur dann funktionieren kann, wenn er von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen und unterstützt wird. Ein zentrales Element austromarxistischer Politik bestand daher in der Bildung und Ausbildung sozialistischer Ideale.
“Wähler zu gewinnen ist nützlich - Sozialdemokraten zu erziehen ist nützlicher” gab bereits Parteigründer Victor Adler die Parole aus, die sich in der Blütezeit des Austromarxismus in der Idee des Neuen Menschen wiederfand. Dahinter stand die Überzeugung, durch ein engmaschiges Netz an Bildungs-, Sport- und Kulturvereinen einen solidarischen Menschen zu erziehen, der die kapitalistische Konkurrenz- und Abwertungslogik durch die sozialistischen Ideale der Solidarität und der Freiheit ersetzt.
Das Rote Wien als Beispiel marxistischer Praxis
Geleitet von der theoretischen Basis des Austromarxismus entstand auch das vermutlich größte Reformprojekt, das in Österreich jemals von der Sozialdemokratie durchgeführt wurde: Die Schaffung des Roten Wiens (in der Eigenbezeichnung des “Neuen Wiens”) zwischen 1919-1934. Die Einzelheiten der Reformprojekte aufzuzählen und zu skizzieren würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, die zahlreichen Gemeindebauten, Bibliotheken oder Schwimmbäder, die zum Teil bis in die heutige Zeit existieren, sprechen für sich.
Doch der ideologische Fokus und die Einzigartigkeit des Projekts gehen weit über die Einzelmaßnahmen hinaus. Denn Gemeindebauten, Schwimmbäder und Bibliotheken unterscheiden, obwohl sie zentrale Bedürfnisse des Lebens wie etwa Wohnen zum Teil der Profitlogik entziehen, eine marxistisch-transformative Stadtregierung jetzt per se noch nicht zwingend von der reformistischen, die kein Interesse an der grundlegenden Überwindung des Kapitalismus hat.
Das große Unterscheidungsmerkmal liegt in der Summe der Reformen, die nur als Gesamtbild zu verstehen sind. Jede Maßnahme - und sei sie noch so klein - fügt sich ein in ein großes Ziel und erfüllt eine spezielle Aufgabe am Weg zu einem Ziel. Dieses Ziel beschränkt sich nicht nur darauf, das Leben der arbeitenden Bevölkerung zu verbessern, sondern genau diese Menschen aus den Fesseln der Profitgier vollends zu befreien.
Zu diesem Zweck ist es auch logisch und nachvollziehbar, dass sich das Rote Wien nicht nur auf politische Reformen beschränkt, sondern mit einem umfassenden Vereinsnetz auch die private Sphäre abdeckt, um den Neuen Menschen Wirklichkeit werden zu lassen. Wie dicht dieses Netz agiert, zeigen die Zahlen. Um 1930 ist rund jede dritte in Wien lebende Person entweder Parteimitglied oder in parteinahen Vereinen organisiert.
Bis heute rühmt sich die Stadt zurecht ob der Erfolge des Roten Wiens. Ohne das marxistische Fundament, das wie ein Kompass durch die Umsetzung der Maßnahmen führt, wären die Errungenschaften des Roten Wien nicht denkbar. Wer also die Erfolge jener Epoche lobt, vom Marxismus aber nichts wissen möchte, hat das Prinzip nicht verstanden.
"Ohne das marxistische Fundament, das wie ein Kompass durch die Umsetzung der Maßnahmen führt, wären die Errungenschaften des Roten Wien nicht denkbar. Wer also die Erfolge jener Epoche lobt, vom Marxismus aber nichts wissen möchte, hat das Prinzip nicht verstanden."
Marxistische Leitlinie in Theorie und Praxis
Die Debatte über die ideologische Grundlage der SPÖ hat sich im Laufe der Jahrzehnte verändert. Galt das Bekenntnis zum Marxismus lange Zeit als gesetzt, sorgten unter anderem die Entwicklungen der Zweiten Republik und der Dritte Weg der Sozialdemokratischen Parteien nach dem Zusammenbruch der UdSSR für einen Abbau der grundlegenden Debatte über eine Zukunft jenseits der systemischen Grenzen der Gegenwart. Heute scheint es selbst für viele Genoss*innen unvorstellbar, über eine solche Transformation auch nur nachzudenken. Das wirkt sich auch auf die politische Praxis aus. Bürgerliche Medien verteufeln unsere Ideen als absurde Träumereien, die politische Rechte (die ganz genau weiß, wo sie ideologisch hin möchte) dominiert seit drei Jahrzehnten den politischen Diskurs in Österreich und darüber hinaus. Das verdeutlicht, dass das Schicksal der SPÖ in Bezug auf ihre Zukunftsvision kein singuläres in Europa und auf der Welt ist, ähnliche Prozesse sind in vielen Arbeiter*innenparteien zu sehen.
Dieser Mix ergibt ein fundamentales Problem. Wie sollen wir für eine andere Welt kämpfen, wenn die Zielvorgabe schwammig und das Fundament abseits von Phrasen nicht diskutiert wird? Der Marxismus und seine Weiterentwicklungen wie Interpretationen waren in der Vergangenheit die existenzielle Grundlage der Bewegung und der Partei. Oder anders formuliert: Ohne Marxismus gäbe es die SPÖ in dieser Form nicht. Was man aus der Geschichte mitnehmen kann, ist die Notwendigkeit einer zu diskutierenden Zukunftsperspektive, die als mittel- und langfristiges Fundament der tagespolitischen Arbeit einen Rahmen gibt. Wir haben eine Welt zu gewinnen, formulierten Marx und Engels einst. Dafür jedoch braucht es Diskussion und Vision. Denn ohne eine fundierte Idee einer anderen Zukunft bleibt eine politische Maßnahme nur eine politische Maßnahme.