Demokratie und Austromarxismus
Amelia Rimac
In Zeiten des „Endes der Geschichte“ wird die bürgerliche Demokratie oftmals als Wert an sich gesehen. Wie denn sonst, wenn mit dem „Sieg“ des Liberalismus über alle politischen Alternativen der Parlamentarismus, der „ausgeglichene Diskurs“, und die Kompromissfähigkeit als politische Leitlinien unhinterfragbar geworden sind. Doch eben jene scheinbar universalen Werte werden im aktuellen „Rechtsruck“ und dem (Wieder-)Aufkommen faschistischer hegemonialer Projekte Stück für Stück ausgehöhlt. Bürgerliche Politiker*innen wie Journalist*innen lassen die schleichende Demontierung unserer Mitbestimmungsrechte mit großer Überraschung im Gesicht einfach an sich vorbeiziehen.
Anstelle bürgerlicher Theorien braucht es angesichts dieser aktuellen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen möglicherweise eine andere Perspektive. Vor dem Hintergrund der Geschichte der Arbeiter:innen-Bewegung ist der Austromarxismus, insbesondere in Bezug auf die Frage des Staats und Demokratie, heute aktueller denn je.
Verschiedene Sichtweisen der Linken auf Demokratie:
Innerhalb der sozialistischen Denk-Traditionen gab es schon immer unterschiedliche Auffassungen über das Verhältnis zum Staat und zur Demokratie. Während manche linke Bewegungen den Staat und die bürgerliche Demokratie als bloße Werkzeuge der herrschenden Klasse betrachteten, die instrumentell zu übernehmen seien, suchten andere Wege, um durch staatliche Institutionen einen schrittweisen Übergang zum Sozialismus zu erreichen. Der Austromarxismus nimmt zwischen diesen Sichtweisen eine besondere Stellung ein. Doch zunächst gilt es, die Theoriengeschichte der österreichischen Sozialdemokratie in Hinblick auf das Staatswesen zu skizzieren, bevor der besondere Gehalt des Austromarxismus beleuchtet wird.
Die österreichische Sozialdemokratie und der Staat
Die österreichische Sozialdemokratie, beeinflusst von einer langen Tradition staatsrechtlicher Auseinandersetzungen, entwickelte eine einzigartige Beziehung zum Staat und zur bürgerlichen Demokratie. Sie zeigt seit jeher eine besondere Faszination für das Staatswesen, was sich in einem ausgeprägten „Faible zur Juristerei“ widerspiegelt. Nicht umsonst sind es oftmals österreichische Sozialdemokrat:innen gewesen, die zu den fanatischsten Staatstheoretiker:innen der internationalen Arbeiter:innen-Parteien zählen. Die Beschäftigung mit staatlichen und rechtlichen Strukturen, die sich vor allem in Persönlichkeiten wie Karl Renner wiederfindet, ist ein Schlüssel zum Verständnis ihrer politischen Strategien.
Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) entstand in der einzigartigen historischen Situation der Habsburgermonarchie – einem spät industrialisierten Vielvölkerstaat, in dem sich die Arbeiter:innen-Klasse nur langsam herausbildete. Dieser Kontext, geprägt von einem schwächelnden (aber nichtsdestotrotz bürokratischen) Staat und der Nationalitätenfrage, beeinflusste die Praxis der Partei maßgeblich.
Eine frühe Parteigründung in Kombination mit einer vergleichsweise späten Einigung über den politischen Kurs führte zu einem „Trauma der Spaltung“. Als Gegengewicht zum langen und schwierigen Einigungsprozess bildete sich ein Organisations- und Einheitsfetischismus heraus – auch in Hinblick auf das Staatswesen. Die Partei tendierte zu einem zentralistischen Unitarismus, was sich beispielsweise in ihrer Haltung zur Nationalitätenfrage widerspiegelte: Die Sozialdemokratie schwankte zwischen der Einbindung der verschiedenen Nationalitäten und einem zentralistischen, staatsfixierten Verständnis. So kam es immer wieder in der Geschichte dazu, dass sich die österreichische Sozialdemokratie entgegen der Bestrebungen der unterdrückten Nationalitäten der Habsburgermonarchie (Tschech:innen, Jugoslaw:innen, Ungar:innen) auf Seiten der k.u.k. Monarchie wiederfand. Ihre Praxis entstand als Schlussfolgerung aus der damaligen theoretischen Sichtweise der internationalen Arbeiter:innen-Bewegung, dass es den Staat als notwendige Komponente auf dem Weg zum Sozialismus brauche.
“Spätestens seit dem Sieg des Marxismus über den Anarchismus als leitende Ideologie der internationalen Arbeiter:innen-Bewegung war klar, dass der Staat eine zentrale Rolle im Klassenkampf spielen würde. In diesem Zusammenhang entwickelt sich auch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts zu einer Kernforderung, die den Boden für die weitere Beteiligung der Sozialdemokratie an der bürgerlichen Demokratie bereitet."
Der Austromarxismus entstand in einer Zeit, in der sozialistische Parteien in ganz Europa vor grundlegenden Fragen standen: Wie sollte man sich gegenüber dem Staat positionieren? Wie sollte der Weg zum Sozialismus aussehen? Spätestens seit dem Sieg des Marxismus über den Anarchismus als leitende Ideologie der internationalen Arbeiter:innen-Bewegung war klar, dass der Staat eine zentrale Rolle im Klassenkampf spielen würde. In diesem Zusammenhang entwickelt sich auch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts zu einer Kernforderung, die den Boden für die weitere Beteiligung der Sozialdemokratie an der bürgerlichen Demokratie bereitet.
Doch eben diese Fixierung auf den Staat und die bürgerliche Demokratie waren es, die die europäischen, sozialdemokratischen Parteien zunehmend zum Verstarren brachten. Über die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts verschwand „Klassenkampf“ aus dem Vokabular der europäischen Arbeiter:innen-Parteien. Im Zuge des „Revisionismus-Streits“ kritisierten verschiedenste linke Theoretiker:innen (Kautsky, Hilferding, Lenin, Luxemburg) diese Entwicklung der Arbeiter:innen-Parteien und boten erste Beiträge für eine theoretische Neu-Positionierung der sozialistischen Bewegung. Auch der Austromarxismus fand in diesen Diskussionen seine Geburtsstunde. Diese Perspektiven würden jedoch erst nach der Jahrhundertwende und den damit einhergehenden Ereignissen zur vollen Blüte kommen.
Reform oder Revolution? Die Frage der bürgerlichen Demokratie und die Blütezeit des Austromarxismus:
Der Erste Weltkrieg und die darauffolgenden Umbrüche brachten viele der etablierten theoretischen Überlegungen der internationalen Arbeiter:innen-Bewegung ins Wanken. Eine zentrale Frage war das Verhältnis zum bürgerlichen Staat: Sollte er reformiert oder revolutionär überwunden werden? Vor dem Hintergrund der Oktoberrevolution in Russland 1917 wurde diese Debatte in Österreich insbesondere in der Umbruchsphase von 1918 bis 1920 intensiv geführt, als die Möglichkeit einer Rätedemokratie oder einer parlamentarischen Demokratie taktisch abgewogen werden musste.
Der Austromarxismus fand in dieser Situation eine eigene Position: Er verband den klassenkämpferischen Anspruch der Rätebewegung mit dem etablierten, parlamentaristischen Parteienverständnis, und bemühte sich somit, eine starke Kampfposition in den Nachkriegsjahren zu bewahren. Dieser Zugang gelang auch realpolitisch: Die Ausweitung des allgemeinen Wahlrechts auf Frauen, oder die gesetzliche Etablierung von Betriebsräten, sind nur zwei Beispiele demokratiepolitischer Erfolge der österreichischen Arbeiter:innen-Bewegung. Zentrale Denker:innen des Austromarxismus scheuten auch nicht davor, diese Erfolge in ihren ideologischen Überlegungen widerzuspiegeln:
Max Adler verstand das Parlament als ein Schlachtfeld des Klassenkampfes, wo politische Kämpfe ausgetragen und soziale Veränderungen erstritten werden konnten. Gleichzeitig versuchte Otto Bauer, in seinem Konzept des „integralen Sozialismus“ die revolutionären Errungenschaften der Oktoberrevolution mit den realpolitischen Notwendigkeiten in Österreich in radikaler, klassenkämpferischer Rhetorik zu vereinen. In diesen Theorien zeigten sich allerdings grundlegende Spannungen zwischen revolutionärer Theorie und reformistischer Praxis, die den Austromarxismus oft in die Kritik brachte. Diese Spannung führte zu ambivalenten Ergebnissen: Während die radikale Rhetorik den revolutionären Bruch mit dem Kapitalismus forderte, verfolgte die Praxis oft reformistische Wege. Diese Ambivalenz zeigt sich auch in der Frage der Räte. In Österreich wurden sie teilweise von der sozialdemokratischen Partei vereinnahmt, wodurch ihr revolutionäres Potenzial untergraben wurde.
Dennoch kann der Austromarxismus nicht in eine Reihe mit den reformistischen Sichtweisen der anderen europäischen sozialdemokratischen Parteien gestellt werden. Anders als ihre sozialdemokratischen Zeitgenoss:innen vertraten die Austromarxist:innen einen explizit klassenkämpferischen Anspruch. Dies spiegelte sich zum einen im Stellenwert von Theorie und Praxis wider – für die Austromarxist:innen gäbe es keine politische Praxis ohne die Analyse der bestehenden Klassenverhältnisse und die Sichtweise auf eine andere Gesellschaftsform. Der Anspruch zeigt sich zum anderen jedoch auch in ihrem Verhältnis zur Demokratie: die Demokratie wurde nicht als ein Wert an sich betrachtet, sondern immer als ein Feld (neben anderen), in dem sich der Klassenkampf abspielt. Die Austromarxist:innen erkannten darin die Notwendigkeit einer wehrhaften Demokratie und sahen den Klassenkampf als zentralen Aspekt des politischen Lebens. Nicht umsonst würden es in späteren Zeiten die österreichischen Arbeiter:innen sein, die sich in einem der wenigen Aufstände in Europa gegen den aufkommenden Faschismus erheben würden.
Bezug zu heute:
Das Erbe des Austromarxismus liegt in seinem kämpferischen Anspruch und seiner tiefen Analyse der bestehenden Gesellschaftsordnung. Er zeigt uns, dass jede Kritik der Gesellschaft auf einer präzisen Analyse der gegenwärtigen Verhältnisse und der Kampffelder beruhen muss, auf denen wir uns bewegen. Der Austromarxismus erinnert uns daran, dass der Kampf um Demokratie und Mitbestimmung nicht abgeschlossen ist, sondern sich in einem ständigen Ringen um gesellschaftliche Veränderung fortsetzt. Seine flexible, aber entschlossene Herangehensweise an Staat und Demokratie bleibt auch heute relevant. Seine Ideen können dazu beitragen, die aktuellen Herausforderungen schwindender Demokratie zu bewältigen, indem sie den kritischen Blick auf Staat und gesellschaftliche Verhältnisse schärfen und den Kampf um eine gerechtere Ordnung neu entfachen.