Demokratie als „Beiwagerl“? Zur linken Demokratietheorie
Jakob Rennhofer
Es gibt für uns keinen Weg, der nicht bei der Demokratie beginnt und in ihrer Radikalisierung endet. Oder anders formuliert: Unsere politische Strategie sollte sich an einer Demokratisierung der Demokratie durch den Weg der Demokratie orientieren.
In einer legendären Podiumsdiskussion¹ Anfang der 1990er Jahre trafen der allseits bekannte Linken-Politiker Gregor Gysi und der eigenwillige Gründer der ebenso eigenwilligen marxistischen Theoriezeitschrift „GegenStandpunkt“, Karl Held, aufeinander. Gregor Gysi war der letzte Parteivorsitzende der DDR-Staatspartei SED und nach der deutschen Wiedervereinigung ebenfalls Vorsitzender der Nachfolgepartei PDS, die seit dem Jahr 2007 auch als „Die Linke“ bekannt ist. Karl Held hingegen galt als besserwisserisches und ultraorthodoxes l’enfant terrible der linken Szene in Deutschland. In dieser Diskussion trafen zwei konträre Positionen aufeinander: Gysi, der die liberale Demokratie als nutzvolle Plattform des Aufbaus einer linken Gegenhegemonie ansah und Held, der alle Wähler*innen als nützliche Idioten des Kapitals betrachtete und die Notwendigkeit einer Arbeiter*innenbewegung, die sich außerhalb der parlamentarischen Institutionen organisiert, beschwörte. Interessant an dieser Debatte ist die Tatsache, dass Gysi tatsächlich in der autoritär-antidemokratischen DDR politisiert wurde, während Held de facto sein Leben lang unter dem Schutzschirm der Demokratie herumtheoretisieren konnte.
30 Jahre nach der Debatte steht ein Großteil der gesellschaftlichen Linken immer noch am genau gleichen Debattenpunkt wie Gysi und Held. Auf der einen Seite haben wir Linksreformist*innen, die die Demokratie als „notwendiges Übel“ zum Erreichen einer sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsform, die nicht wie die sozialistischen Experimente des 20. Jahrhundert ins Autoritäre kippt, ansehen. Und auf der anderen Seite stehen die revolutionären Marxist*innen, die jegliche Teilnahme am demokratischen Spiel per se ablehnen und die revolutionäre Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch Organisierung außerhalb der Institutionen beschwören.
Die These meines Artikels lautet: Wenn man es mit dem „demokratischen Sozialismus“ ernstmeint, müssen beide Sichtweisen verworfen werden. Die Demokratie per se ist nämlich weder ein „notwendiges Übel“ noch eine bürgerliche Institution, die es zu bekämpfen gälte. Vielmehr verwirklicht sich der Sozialismus erst in der Demokratisierung der Demokratie selbst. Nachdem ich diese These vorausgestellt habe, möchte ich auf ausgewählte linke Debatten rund um die Demokratie genauer eingehen.
War Karl Marx ein Demokratietheoretiker?
Wenn es um die Kritik der politischen Ökonomie oder um die materialistische Geschichtsauffassung geht, ist es immer sinnvoll, direkt bei Marx zu starten. Lässt sich das auch im Falle der Demokratietheorie sagen? Die Antwort fällt – genau wie Marxens Haltung zur Demokratie – durchaus widersprüchlich aus. Marx verkehrte gerade in der Anfangsphase seiner journalistischen Zeit immer wieder in radikaldemokratischen Kreisen. In seinen Artikeln setzte er sich immer wieder bedingungslos für die Pressefreiheit ein und warnte eindringlich vor der Vereinnahmung der Presse durch die Profitlogik des Gewerbes. Gemeinsam mit Friedrich Engels erteilte er im Kommunistischen Manifest all jenen Sozialist*innen, die hinter die demokratischen und rechtlichen Errungenschaften des Bürgertums zurückfallen möchten, eine Absage.²
Zugleich hielt sich Marx aber nicht mit der Kritik an der liberalen, parlamentarischen Demokratie zurück, die er als essenziellen Bestandteil der bürgerlichen Herrschaft verstand. Sein Ausdruck der „Diktatur des Proletariats“, die er als Übergangsphase zur kommunistischen Gesellschaft begriff, wird von vielen liberalen und konservativen Denker*innen bis heute als Beweis für den der sozialistischen Weltsicht zugrundeliegenden Autoritarismus angeführt. Diesem angeblichen „Beweis“ muss man natürlich entgegnen, dass Marx a.) diesen Ausdruck nach der Enttäuschung der Revolutionen der 1840er Jahre wählte und ihn die folgenden Jahre nicht mehr verwendete und b.) dies kaum wörtlich, sondern als „Vorherrschaft der Arbeiter*innen“ zu verstehen ist.³
Dennoch lässt sich schwer leugnen, dass Marx nicht als Demokratietheoretiker hervorsticht. Laut Engels könnte die theoretische Geringschätzung der Demokratie seitens Marx u.a. an fehlender Literatur zur französischen Revolution liegen, war Marxens Demokratieverständnis doch stark von ihr geprägt, wobei er zu seiner Zeit ausschließlich auf die Auslegung der Französischen Revolution durch liberale Historiker angewiesen war.⁴ Den wahrscheinlich couragiertesten und wohlmeinendsten Versuch, dem Marxschen Werk eine Demokratietheorie zu entlocken, stellen die Arbeiten von Miguel Abensour dar, in denen er versucht, Marxens Äußerungen eine postmarxistische Wendung im Sinne eines demos, der sich gegen den Staat stellt, zu geben.⁵ In diesem Jahr soll ebenfalls eine Monographie von Alex Demirovic erscheinen, in der er sich mit dem ambivalenten Demokratieverständnis von Marx auseinandersetzt.⁶
Der Austromarxismus und die Demokratie
Ich möchte die Demokratieauffassung des Austromarxismus nur in aller Kürze abhandeln, da Amelia für diese Ausgabe einen eigenen, sehr lesenswerten Artikel zum Thema verfasst hat. Dennoch scheint es mir wichtig, auch in diesem Rahmen auf den Austromarxismus Bezug zu nehmen.
Um die wesentlichsten Missverständnisse über das Verhältnis zwischen Austromarxismus und Demokratie auszuräumen, möchte ich eine Anekdote einbringen. Ich habe 2019 in einem Oberstufengymnasium mündlich im Fach „Geschichte“ maturiert. Dabei wurde ich zu den Entwicklungen der Ersten Republik hin zum Austrofaschismus befragt. Als Vorlage dienten mir zwei Textauszüge, einer aus dem „Korneuburger Eid“ der Heimwehr aus dem Jahr 1930 und einer aus dem Linzer Programm der SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei) aus dem Jahr 1926. Die mutmaßliche Vergleichs- und Interpretationsidee meiner Prüfer*innen war wohl: „Der Austrofaschismus war zwar schlimm, aber die Sozialdemokrat*innen haben mit ihrer antidemokratischen Ausrufung der Diktatur des Proletariats zumindest eine Teilschuld!“
Wer des Lesens mächtig ist, erkennt recht rasch die großen Unterschiede zwischen den beiden „Programmen“.
Korneuburger Eid: „Wir verwerfen den westlichen demokratischen Parlamentarismus und den Parteienstaat! Wir wollen an seine Stelle die Selbstverwaltung der Stände setzen und eine starke Staatsführung, die nicht aus Parteienvertretern, sondern aus den führenden Personen der großen Stände und aus den fähigsten und den bewährtesten Männern unserer Volksbewegung gebildet wird.“⁷
Linzer Programm: „Die sozialdemokratische Arbeiterpartei wird die Staatsmacht in den Formen der Demokratie und unter allen Bürgschaften der Demokratie ausüben. Die demokratischen Bürgschaften geben die Gewähr dafür, daß die sozialdemokratische Regierung unter ständiger Kontrolle der unter der Führung der Arbeiterklasse vereinigten Volksmehrheit handeln und dieser Volksmehrheit verantwortlich bleibt (…) Wenn sich aber die Bourgeoisie gegen die gesellschaftliche Umwälzung, die die Aufgabe der Staatsmacht der Arbeiterklasse sein wird, durch planmäßige Unterbindung des Wirtschaftslebens, durch gewaltsame Auflehnung, durch Verschwörung mit ausländischen gegenrevolutionären Mächten widersetzen sollte, dann wäre die Arbeiterklasse gezwungen, den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen.“⁸
Gerade im Vergleich ist sehr wenig Interpretationsspielraum gegeben: Während die Heimwehr im „Korneuburger Eid“ bereits das faschistische Programm der Dollfuß-Diktatur vorweggenommen hat, verweist das Linzer Programm lediglich darauf, dass die Demokratie mit allen Mitteln verteidigt werden muss – notfalls auch mit den Mitteln der Diktatur, temporär. Aus diesen Zeilen spricht ein fast schon radikales Verständnis von Demokratie, das von Geschichtsrevisionisten gerne absichtlich falsch gedeutet wird. Die Verteidigung der Demokratie mit den Mitteln der Diktatur mag zunächst widersprüchlich scheinen. Kritiker*innen – auch aus dem sozialdemokratischen Lager – waren zudem der Meinung, dass die Wortwahl „mit den Mitteln der Diktatur“ absichtlich gewählt wurde, um Fehlinterpretationen zu ermöglichen. Angesichts des historischen Zeitpunkts des Programms muss diese Passage jedoch als klare Kampfansage an all jene gedeutet werden, die versuchten, die in Österreich maßgeblich durch die Sozialdemokratie geprägte Demokratie zu untergraben. Ähnlich äußerte sich auch Josef Hindels:
„In Österreich selbst waren 1926 bereits die faschistischen Wehrverbände, vor allem die berüchtigte Heimwehr, aktiv im bewaffneten Kampf gegen die Arbeiterbewegung. (…) Hätte die österreichische Sozialdemokratie in dieser Situation ein Programm beschlossen, das die vom Faschismus ausgehende Gefahr für die Demokratie ignoriert, wäre sie weder vom Gegner noch von den eigenen Anhängern ernst genommen worden. Jeder rechnete in den zwanziger Jahren damit, daß die Gegner Gewalt anwenden werden, um eine sozialdemokratische Regierung, die aus freien Wahlen hervorgegangen ist, zu stürzen.“⁹
Wir sehen jedoch, wie wichtig den Austromarxist*innen die Betonung auf den demokratischen Charakter des Übergangs hin zu einer sozialistischen Gesellschaft war. Und diese Betonung geht weit über das Linzer Programm hinaus. So schrieb Otto Bauer bspw. in seiner 1919 erschienen Schrift „Der Weg zum Sozialismus“:
„Wir aber wollen nicht den bureaukratischen Sozialismus, der die Beherrschung des ganzen Volkes durch eine kleine Minderheit bedeuten würde. Wir wollen den demokratischen Sozialismus, das heißt die wirtschaftliche Selbstverwaltung des ganzen Volkes. (…) Darum ist die erste Voraussetzung des Sozialismus, daß die breiten Massen des Volkes, daß die Mehrheit des Volkes von sozialistischer Überzeugung erfüllt, vom Willen zum Sozialismus beseelt wird.“¹⁰
Der Vorwurf eines antidemokratischen Impetus bei Bauer & Co. lässt sich also unzweideutig entkräften. Es wäre darüber hinaus absurd, anzunehmen, dass jene politischen Akteure, die die Demokratie erstmals in Österreich aufgebaut haben, sich nun programmatisch gegen diese wenden würden. Bei der Frage, ob der Austromarxismus eine eigene Demokratietheorie entwickeln konnte, verweise ich dringend auf den Artikel von Amelia.
“Für Marx und Engels war die Sphäre des Politischen im Überbau angesiedelt und damit eine direkte ideologische Konsequenz der materiellen Basis, also der kapitalistischen Produktionsweise. Das Verhältnis zwischen Überbau und Basis sei zwar – ganz in dialektischer Manier – dynamisch, sodass Änderungen im Überbau auch an der Fassade der Produktionsweise kratzen können. Letztendlich insistieren sie dennoch auf die ausschlaggebende Rolle der materiellen Basis. Laclau & Mouffe holten „das Politische“ ins Zentrum ihrer Analyse als ausschlaggebende gesellschaftsbildende Kategorie zurück."
Radikale Demokratietheorie und die Sphäre des Politischen
Die Debatten rund um den Begriff der Demokratie drehten sich in der Linken des 20. Jahrhunderts jahrzehntelang im Kreis. Zwar waren sich viele - zumindest in der Theorie – daring einig, dass jede proletarische Demokratie nicht hinter die Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie zurückfallen darf. Darüber hinaus krankte es an zweiallerlei: a.) Wie können sozialistische Demokratien in Abgrenzung zu liberalen Demokratien aussehen und b.) Was genau meinen wir denn eigentlich, wenn wir von Demokratie sprechen?
Die beiden Theoretiker*innen Ernesto Laclau und Chantal Mouffe haben Anfang der 1980er Jahre versucht, diese theoretischen Leerstellen genauer unter die Lupe zu nehmen. In ihrem Standardwerk „Hegemonie und radikale Demokratie“¹¹ brechen sie mit herkömmlichen Gewissheiten des marxistischen Diskurses, um den Aufbau einer neuen Linken unter radikaldemokratischem Vorzeichen heraufzubeschwören.
Eine dieser Gewissheiten betrifft das Wesen des Politischen. Für Marx und Engels war die Sphäre des Politischen im Überbau angesiedelt und damit eine direkte ideologische Konsequenz der materiellen Basis, also der kapitalistischen Produktionsweise. Das Verhältnis zwischen Überbau und Basis sei zwar – ganz in dialektischer Manier – dynamisch, sodass Änderungen im Überbau auch an der Fassade der Produktionsweise kratzen können. Letztendlich insistieren sie dennoch auf die ausschlaggebende Rolle der materiellen Basis. Laclau & Mouffe holten „das Politische“ ins Zentrum ihrer Analyse als ausschlaggebende gesellschaftsbildende Kategorie zurück.
Demzufolge gibt es das Proletariat als quasi-transzendentales Subjekt einer politischen Veränderung nicht. Grob zusammengefasst: Arbeiter*innen können zwar Bewegungen bilden und grundlegende politische Veränderungen herbeiführen. Das stellt jedoch keineswegs eine Notwendigkeit dar. Diese Rolle können – Laclau und Mouffe paraphrasierend – genauso andere soziale Bewegungen (bspw. die Frauenbewegung, Student*innenbewegung, usw.) herbeiführen. Politische Subjekte sind nämlich nicht objektiv gegeben, sie müssen erst durch eine Art „vorläufige Schließung des Diskurses“ konstruiert werden.
Das hört sich zwar kompliziert an, entspricht aber der Logik jeder politischen Bewegung: Um als sozialistische Bewegung „schlüssig“ zu sein, müssen wir manche Forderungen wie Ideen ausschließen. Zugleich ist diese Fixierung auf gewisse Themen, Vorstellungen, Forderungen etc. laut Laclau & Mouffe nie von Dauer. Politische Akteure und Bündnisse sind fragil, weil sich die Verhältnisse in und außerhalb der politischen Bewegungen immer ändern können. Zugleich liegt darin auch die Stärke des „Politischen“.
Was meint (vor allem Mouffe) mit dem Politischen?¹² Mit dem Politischen wird der grundsätzliche Wesenskern der Politik bezeichnet. Und dieser Wesenskern ist laut Mouffe antagonistisch strukturiert. Soll heißen: Politik entsteht nicht – wie etwa Philosoph*innen wie Jürgen Habermas und (in abgeschwächter Form) Hannah Arendt behaupten – in einer Sphäre der vernünftigen, konsensualen Entscheidungsfindung. Das Politische besteht immer aus einer Trennlinie, einem „Wir“ und einem „Sie“. Die Rolle der Demokratie muss es sein, diesen Ur-Konflikt der verschiedenen politischen Gruppen einzuhegen und produktiv zu machen. Anhand dieser von Laclau und Mouffe entwickelten Ideen ist es kaum verwunderlich, dass sich beide in ihren Werken auch ausführlich mit dem Populismus auseinandergesetzt und diesen begrüßt haben.
Mit ihren frischen Ansätzen haben Laclau und Mouffe nicht nur dazu beigetragen, das Standing der Demokratietheorie in der linken Debatte deutlich zu verbessern. Es ist auch ein enormer Verdienst der beiden, dass feministische und anti-rassistische Debatten nicht mehr als „Nebenwiderspruch“ zum „Hauptwiderspruch“ der kapitalistischen Produktionsweise betrachtet werden. Dennoch gibt es aus sozialistischer Perspektive einiges an der radikalen Demokratietheorie zu kritisieren.
Während die klassische linke Theorie nach Marx zwar einen Ökonomiebegriff, aber keinen Begriff des Politischen hat, verhält es sich bei der radikalen Demokratietheorie umgekehrt: Die ökonomische Dimension sozialer Kämpfe wird als kontingentes Nebenprodukt des demokratischen Spiels betrachtet. Es ist daher verständlich, dass Chantal Mouffe in einem ihrer neuesten Bücher¹³ fast schon selbstkritisch konstatiert, die Linke hätte in den vergangenen Jahren die ökonomischen Kämpfe zu sehr aus den Augen verloren, während sie einige Jahre zuvor in „Hegemonie und radikale Demokratie“ noch den Ökonomismus der marxistischen Linken kritisierte. Darüber hinaus hat Slavoj Zizek¹⁴ in einer Debatte den nachvollziehbaren Einwand eingebracht, wonach sich anhand der radikalen Demokratietheorie kein jenseits der kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung denken ließe und der Kapitalismus unbewusst als „the only game in town“ akzeptiert werden würde.
Dennoch kann die Linke von Laclau & Mouffe so einiges lernen, darunter die Funktionsweise sozialer Bewegungen, die Relevanz von Affekten in der Politik sowie die Demokratie als Notwendigkeit fortschrittlicher Politik.
Postdemokratie: Wie demokratisch sind unsere Demokratien?
Eine Frage, der wir bisher gekonnt ausgewichen sind, ist die Frage nach dem aktuellen Zustand der westlichen Demokratien. Gewiss, in vielen linksliberalen Medien wird seit fast einem Jahrzehnt – zurecht – vor der rechtspopulistischen bis rechtsextremen Gefahr für die Demokratie gewarnt. Doch die Frage, inwiefern Entwicklungen der liberalen Demokratie selbst zu deren Unterminierung beigetragen haben, tritt dabei oft in den Hintergrund.
Dabei gibt es genau darüber seit mehr als zwei Jahrzehnten sehr kontrovers geführte Debatten. Eine der prominentesten Analysen stammt vom britischen Politikwissenschaftler Colin Crouch, der den Begriff der „Postdemokratie“ mit seinem gleichnamigen Essay als Erster salonfähig machte.
Postdemokratie definiert Crouch wie folgt:
„Der Begriff bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkampfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten vorher ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive […] Rolle[.] Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.“¹⁵
Crouch sieht den Übergang von Demokratie zur Postdemokratie im starken Zusammenhang mit dem Aufkommen des Neoliberalismus ab den 1970er Jahren. In der Phase des Nachkriegs-Keynesianismus in den allermeisten wesentlichen Demokratien hingegen sieht er „den Moment der Demokratie“ schlechthin. Nun kann man sich darüber streiten, ob jene Entwicklungen, die Crouch in der oben erwähnten Definition anführt, der in den kapitalistischen Rahmen eingebetteten Demokratie seit je her inhärent ist. Eine weitere gewaltige Erosion der Demokratie durch den Neoliberalismus ist aber definitiv bemerkbar. Immerhin hat die neoliberale Ideologie die gesellschaftliche Individualisierung in den vergangenen dreißig Jahren hauptsächlich zu verantworten. Und wenn jegliche Form der kollektiven Entscheidungsfindung über Jahre hinweg von neoliberalen Meinungsmacher*innen diskreditiert wird, gibt es auch keine Organisierung des Klassenkampfes mehr.
Als gewissermaßen anschlussfähig erweist sich hier Anton Jägers rezente Analyse der „Hyperpolitik“¹⁶. Jäger unterteilt die demokratische Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte in Massenpolitik, Postpolitik, Anti-Politik und Hyperpolitik. Die Massenpolitik, wie sie während des bereits erwähnten Nachkriegs-Keynesianismus dominant war, zeichnete sich durch einen hohen Grad der Institutionalisierung (bspw. in Parteien und Gewerkschaften) und Politisierung der Gesellschaft aus. Die Postpolitik – man könnte auch von Postdemokratie sprechen – hingegen kann als das genaue Gegenteil bezeichnet werden: Sowohl Institutionalisierung als auch Politisierung verschwanden vor allem in den 1990er Jahren rapide. Das angebliche Ende der Geschichte wurde zum Ende der Politik.
Wie verhält es sich nun mit der „Hyperpolitik“?¹⁷ Laut Jäger zeichnet sich die gegenwärtige Epoche wiederrum durch einen hohen Grad der Politisierung, aber einem geringen Grad der Institutionalisierung aus. Soll heißen: Wir alle sind stark politisiert, aber in der Realität ändert sich dadurch recht wenig. Jäger spricht hier von „Ad-hoc-Ideologien“. Während in der Zeit der „Massenpolitik“ viele Menschen in Parteien oder Verbänden organisiert waren und politische Phänomene aus einem gefestigten Weltbild heraus begreifen konnten, fehlt es ihnen nun an einer kohärenten Sichtweise. Unter diesem Aspekt sind auch viele Klein-Klein-Diskussionen in den sozialen Medien zu betrachten, die kurz hochflammen und im Anschluss direkt in Vergessenheit geraten.
Wir sehen also, dass lange vor der Bedrohung der Demokratie durch die politische Rechte bereits der Neoliberalismus an der Unterminierung eben dieser gearbeitet hat. Man könnte sogar so weit gehen, den Aufstieg der politischen Rechten mit eben dieser vorangegangenen Entwicklung zu erklären. Crouch hat sich hierzu vor wenigen Jahren in einem Aktualisierungsband geäußert:
„[Ihre Vertreter versprechen] den Teufel postdemokratischer Verhältnisse mit einem antidemokratischen Beelzebub auszutreiben.“¹⁸
Fazit: Mehr Demokratie wagen!
Wie Wendy Brown¹⁹ richtigerweise bemerkt hat, sind nun irgendwie alle „Demokrat*innen“. Alle politische Bewegungen – egal ob links oder rechts - berufen sich in irgendeiner Form auf die Demokratie. Sie wird damit zu einem „leeren Signifikanten“, also einem Begriff ohne Bedeutung, dem alle möglichen Konnotationen zugeschrieben werden können. Das liegt vielleicht am Demokratie-Begriff selbst: Immerhin sagt er nicht viel mehr aus als Demos (Volk) + kratie (Herrschaft), also die Herrschaft des Volkes.
Eine weitere Frage ist jene nach der Vollkommenheit der Demokratie. Kann es eine Demokratie geben, die ihre eigenen Ansprüche jemals erreicht? In der tatsächlich alle gleichwertig partizipieren können? Vielleicht nicht. Wir könnten die Demokratie jedoch als „regulative Idee“ im Sinne Kants verstehen, also als ein Ideal, das uns dabei helfen kann, eine Gesellschaft zu errichten, in der alle Lebensbereiche mit Demokratie durchflutet werden.
In diese Richtung geht auch mein Fazit: Als demokratische Sozialist*innen dürfen wir den demokratischen Aspekt nicht einfach als begriffliches „Beiwagerl“ verstehen. Was ist denn der Sozialismus, wie wir ihn verstehen, mehr als eine Demokratisierung, die sich selbst ernstnimmt und nicht in der wirtschaftlichen Sphäre stehen bleibt?
Die Demokratie, wie wir sie im Moment in den westlichen Ländern vorfinden, steckt natürlich in einem gewissen Grad mit dem Kapital unter einer Decke. Das sollte uns jedoch nicht zu dem Fehlschluss einer notwendigen Verbindung von Demokratie und Kapitalismus führen, in der beide Begriffe dasselbe bezeichnen (ähnlich argumentiert Alain Badiou gerne). Sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart zeigen uns, dass der Kapitalismus unter undemokratischem, autoritärem Vorzeichen oftmals „besser“ funktionieren kann. Dementsprechend dürfen wir die Schuld für die Vielfachkrise nicht in der Demokratie, sondern im Kapitalismus suchen.
Ich habe in diesem Artikel versucht, zu zeigen, dass das Verhältnis zwischen der Linken und der Demokratie noch nie ein leichtes und immer mit Ambivalenzen durchzogen war. Aus den Debatten der vergangenen Jahrzehnte können wir jedoch einiges lernen, darunter vor allem die Tatsache, dass es keinen Weg für uns gibt, der nicht bei der Demokratie beginnt und in ihrer Radikalisierung endet. Oder anders formuliert: Unsere politische Strategie sollte sich an einer Demokratisierung der Demokratie durch den Weg der Demokratie orientieren, auch wenn wir uns hier den billigen Vorwurf des Reformismus gefallen lassen müssen. Denn, wie der große Staatstheoretiker Nicos Poulantzas es schon mal formuliert hat: „Der Sozialismus wird demokratisch sein oder gar nicht.“
Anmerkungen
[1] Hier teilweise nachzuhören: https://www.youtube.com/watch?v=4GksrZ_1DYI
[2] Engels, Friedrich; Marx, Karl (1848): Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW 4. Berlin: Dietz Verlag. S. 486 f.
[3] siehe Lang, Josef (2018): „Karl Marx und die Demokratie: Konsequente Praxis, inkohärente Theorie“ , in: Wermuth, Cédric; Ringger, Beat (Hrsg.) (2018): MarxnoMarx. 33 Linke zur Frage, wie das Werk von Marx heute fruchtbar gemacht werden kann. Edition 8. S.161
[4] Ebd.
[5] bspw. Abensour, Miguel (2012): Demokratie gegen den Staat. Marx und das machiavellische Moment. Berlin: Suhrkamp.
[6] Demirovic, Alex: Marx als Demokrat oder: Das Ende der Politik. Berlin: Dietz Verlag. Erscheint voraussichtlich im November 2024.
[7] siehe https://hdgoe.at/korneuburger-eid
[8] „Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs. Beschlossen vom Parteitag zu Linz am 03. November 1926“, in: Sandkühler, Hans-Jörg; de la Vega, Rafael (1970): Austromarxismus. Texte zu ‚Ideologie und Klassenkampf‘ von Otto Bauer, Max Adler, Karl Renner, Sigmund Kunfi, Bela Fogarasi und Julius Lengyel. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsgesellschaft. S. 385.
[9] Hindels, Josef (1986): Das Linzer Programm. Ein Vermächtnis Otto Bauers. Wien: Bund Sozialdemokratischer Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus. S. 25
[10] Bauer, Otto (1919): „Der Weg zum Sozialismus“, in: Otto Bauer (2017): Der Weg zum Sozialismus. Herausgegeben von Thomas Gimesi. S. 52 f.
[11] Laclau, Ernesto; Mouffe, Chantal (1991): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien: Passagen Verlag.
[12] siehe Mouffe, Chantal (2017): Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. 7. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
[13] gemeint ist Mouffe, Chantal (2018): Für einen linken Populismus. Berlin: Suhrkamp.
[14] Žižek, Slavoj (2022): „Klassenkampf oder Postmodernismus? Ja, bitte!“, in: Butler, Judith; Laclau, Ernesto; Žižek, Slavoj (2022): Kontingenz, Hegemonie, Universalität. Aktuelle Dialoge zur Linken. Unveränderter Nachdruck. Wien: Turia + Kant.
[15] Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 10.
[16] Jäger, Anton (2023): Hyperpolitik. Berlin: Suhrkamp.
[17] Die Anti-Politik wird hier absichtlich ausgelassen, da Jäger diesen Begriff m.E. zu ungenau in seinem Essay behandelt.
[18] Crouch, Colin (2021): Postdemokratie revisited. Berlin: Suhrkamp. S. 139.
[19] Brown, Wendy (2012): „Wir sind jetzt alle Demokraten“, in: Agamben, Giorgio et al. (2012): Demokratie? Eine Debatte. Berlin: Suhrkamp. S. 55