Die rechtsextreme Aushöhlung der Demokratie

Simon Gartner

Wir dürfen nicht abstumpfen, wenn Rechtsextreme sich immer mehr Platz nehmen, wir müssen Rechtsextremen auf allen Ebenen zeigen, dass wir bereit sind, gegen ihre menschenfeindlichen Ideale zu kämpfen. Für die Demokratie, für den Rechtsstaat, für die Erinnerung an die Millionen Opfer des Faschismus: kein Fußbreit dem Faschismus, kein Fußbreit der FPÖ!

Mit dem 24. März 1933 begann eines der dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte. Der deutsche Reichstag verabschiedet das Ermächtigungsgesetz, das Hitler über jegliche parlamentarischen und demokratischen Prozesse hebt und somit den Weg für den Nazifaschismus ebnet. Millionen Menschen lassen ihr Leben in Folge dieses grausamen Regimes. Angesichts der Wiederauferstehung des europäischen Faschismus ist heute, vielleicht sogar mehr als jemals zuvor, klar: Erinnern bedeutet kämpfen. Doch wie konnte es jemals so weit kommen? 

Werfen wir einen Blick in die Jahre vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler. Paul von Hindenburg, im ersten Weltkrieg prominenter General, später Politiker der konservativen Zentrumspartei und ab 1925 deutscher Reichspräsident ernennt 1930 seinen Parteikollegen Heinrich Brüning zum Reichskanzler. Die Leitlinie für Brünings Regierung: antiparlamentarisch und antimarxistisch. Über zwei Jahre hinweg herrscht Brüning ohne, bzw. gegen das Parlament. Als Minderheitsregierung hat die Zentrumspartei keine Mehrheit im Reichstag, stellt jedoch den Präsidenten; lehnt der Reichstag ein Gesetz ab, erlässt Hindenburg eine Notverordnung, im Falle eines Einspruches löst er den Reichstag auf. Im Hinblick auf eine Neuwahl, bei der die NSDAP wohl stärkste Kraft werden würde, tolerierte die SPD diese verfassungswidrige Legislativstrategie. 

Mittels ihrer Notverordnungen forcierte das Brüning-Hindenburg Regime inmitten einer massiven Wirtschaftskrise eine stringente Spar- und Deflationspolitik. Dadurch sank die Kaufkraft der Deutschen massiv, aber vor allem explodierte die Arbeitslosigkeit: Während es 1931 noch 4,7 Millionen Arbeitslose gab, waren es nur ein Jahr später 7,6 Millionen, zugleich wurden Banken massiv subventioniert. Brünings Ziel: Sich durch seine Wirtschaftspolitik aus dem Versailler Vertrag herauszuwinden, was knapp nach dem Ende seiner Amtszeit auch gelang. Der Preis? Die Durchlöcherung der deutschen Demokratie, eine massive Verschärfung der Wirtschaftskrise und der Sturz von Millionen Familien in elendste Armut. Während Brüning die Scheuklappen anlegte und sozial- sowie wirtschaftspolitische Vorschläge des Expertenlagers vollends ignorierte, machte die NSDAP sich jene zu eigen und utilisierte sie mit großem Erfolg für ihre Propaganda.  

Die Situation verschärfte sich weiter: Während selbst nach Hitlers Wahlsieg Konflikte zwischen SPD und KPD ernsthaften geeinten Widerstand des linken Lagers verhinderten, schmiegte sich die Zentrumspartei immer enger an die NSDAP. Anfangs verhandelte man in der Hinterkammer eine bilaterale Tolerierungspolitik, bald bot man der NSDAP eine Regierungsbeteiligung an, und letztlich beauftragte Hindenburg Hitler mit der Bildung einer Mehrheitskoalition. In der Zentrumspartei glaubte man, Hitler kontrollieren und seine Macht kaufen zu können; so soll der Zentrums-Altkanzler Franz von Papen gesagt haben: „In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, dass er quietscht!“ Tatsächlich wurde kurz danach das Ermächtigungsgesetz verabschiedet, und Hitler war Diktator Deutschlands. 

So hatte Hitler das Undenkbare geschafft: in nur eineinhalb Jahren hatte er die uneingeschränkte diktatorische Kontrolle über sämtliche staatliche Institutionen erlangt, seine Koalitionspartner zurückgelassen, und seinen ersehnten „Führerstaat“ errichtet. Die NSDAP erkämpfte sich die Macht jedoch nicht gewaltsam, sie wurde ihr in die Hände gelegt: die „legale“ Revolution war gelungen, im Schein der Rechtstaatlichkeit stand man an der Spitze des deutschen Reiches. 

Aus diesem bitterst dunklem Kapitel der Menschheitsgeschichte kann und muss man lernen. So waren es konservative Kräfte, die glaubten, mit Hitler, Goebbels, und Göring jonglieren zu können, bevor sie ihrer Kontrolle entglitten; ihre kapitalistische Spar- und Deflationspolitik ermöglichte den Aufschwung der NSDAP. Das gesplitterte linke Lager beförderte sich teils selbst in die Handlungsunfähigkeit, die SPD tolerierte die autokratischen Strategien der Zentrumspartei, bis der Weg zurück in den demokratischen Rechtsstaat zugemauert war. Die Unfähigkeit der Demokratie, sich selbst zu verteidigen, versetzte ihr den Todesstoß. 

 

Kickls Blueprint – Orban und die Fidesz

Im Falle Viktor Orbans, des seit 2010 in Ungarn regierendem Autokraten, finden sich zahlreiche Elemente dieses Musters wieder. Fidesz, Orbans völkisch-nationalistische Partei, die Ungarn ethnisch-kulturell definiert, gewann vor mittlerweile 14 Jahren die Wahlen zum ungarischen Parlament mit 52,7 % der Stimmen. Das große Problem: diese knappe prozentuelle Mehrheit reicht in Ungarns verschobenem Wahlsystem für eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Sitze im Parlament, Verfassungsänderungen ohne Miteinbeziehung der Opposition sind also möglich. 

“Orban und die Fidesz bedienen sich der klassisch rechtsextremen Scheinlegalität, die schon ein dreiviertel Jahrhundert zuvor ein Hauptwerkzeug der NSDAP war; man operiert nicht im Rahmen der Verfassung, sondern findet Lücken, um sie zu sprengen."

Orban schöpft diese Möglichkeit vollends aus: Bald nach seinem Amtsantritt setzte Fidesz erste Verfassungsänderungen um. Das bereits ungerechte Wahlsystem wird weiter zugunsten Orbans gebogen, das Justizsystem im Sinne des Autokraten geschwächt und die Gewaltenteilung aufgeweicht. Für ein Schnellverfahren, mit dem man ein Gesetz binnen zwei Tagen verabschieden kann, benötigt man nur noch eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament, die Fidesz hat. Bei solchen Schnellverordnungen hat die Opposition eine gesammelte Redezeit von 15 Minuten, Ungarn wird also faktisch per Dekret regiert; eine ähnliche Reform setzte 1933 die NSDAP nach ihrem Machtantritt um. Zusammengefasst verschmelzen sämtliche staatlichen sowie demokratischen Organe und verfestigen sich im Machtapparat Orbans, der frei über jene verfügen kann und sie strategisch dirigiert, um seine alleinige Kontrolle im ungarischen Staat zu zementieren. 

Man fragt sich nun: Was macht der ungarische Verfassungsgerichtshof? Die Antwort ist simpler als gedacht – er kippt die Gesetze Orbans. Doch auch diesen Schutzmechanismus des Rechtsstaates weiß die Fidesz zu kontern. Bestimmt der ungarische Verfassungsgerichtshof die Unrechtmäßigkeit eines Gesetzes Orbans, entzieht jener mit seiner Zwei-Drittel-Mehrheit dem Gericht seine Zuständigkeit und setzt das Gesetz trotz deklarierter Verfassungswidrigkeit um.

Also: Orban und die Fidesz bedienen sich der klassisch rechtsextremen Scheinlegalität, die schon ein dreiviertel Jahrhundert zuvor ein Hauptwerkzeug der NSDAP war; man operiert nicht im Rahmen der Verfassung, sondern findet Lücken, um sie zu sprengen. Orban steht nicht im geteilten Einklang, sondern in der absoluten Dominanz über staatliche Institutionen. Das Erschreckende aus österreichischer Perspektive: Kickl, der bisweilen schon durch die Medien prognostizierte Sieger der nächsten Nationalratswahl, sieht Orban als Idol. Er bezeichnet ihn als „Macher an der Spitze des Staates“ und als „Vorbild für Viele in Europa, […] denen die Anliegen ihrer Bürger noch etwas bedeuten“. 

Das Grundgesetz, die wehrhafte Demokratie und die AfD

Analysiert man den Aufstieg der NSDAP und der Fidesz sowie vieler anderer autokratischer Parteien wie der PiS in Polen, Erdogans AKP in der Türkei und Melonis italienischer FdI, so erkennt man eine erschreckende Tatsache: alle von ihnen wurden mindestens einmal demokratisch gewählt. Man sieht also klar, dass die Inklusion antidemokratischer Parteien in demokratische Prozesse die Demokratie und den Rechtsstaat selbst angreift; die Demokratie frisst sich in solchen Fällen selbst. Mit dem Nationalsozialismus in der direkten gesellschaftlichen Erinnerung verstanden die Verfasser des deutschen Grundgesetzes dies, und so wurde das Prinzip der wehrhaften Demokratie im deutschen Pendant zum Bundesverfassungsgesetz verankert. Im deutschen Grundgesetz kann sich die Demokratie also nicht selbst abschaffen, egal mit welcher Mehrheit; außerdem ist es möglich, Feinden der freiheitlich demokratischen Grundordnung ihre Grundrechte wie Meinungsäußerung abzusprechen, auch Parteienverbote sind möglich. 

In letzter Zeit werden diese demokratischen Mittel so stark diskutiert, wie lange nicht mehr. Der Grund dafür: Zwei Dutzend Rechtsextreme, die sich in einer Villa in Potsdam trafen, um die Deportation Millionen Deutscher zu planen. Es handelt sich nicht nur um abstrakte ideologische Phantasien, konkrete Pläne zur Umsetzung liegen nämlich vor: Man will einen Expertenrat schaffen, der die Massendeportationen unter „ethischen, juristischen und logistischen Gesichtspunkten“ durchplanen soll, ein Verfassungsrechtler erklärt, eine Mustervorlage für die Anzweiflung von Wahlen fände er machbar. Mit dabei auf der Tagung sind sowohl hochrangige AfD- als auch CDU-Mitglieder. 

Die Potsdamer Konferenz schiebt eine Debatte in die breite Öffentlichkeit, die bereits seit Jahren geführt wird: Kann man die AfD verbieten? Die gesamte Bundespartei ist seit 2021 Verdachtsfall, also potenziell rechtsextremistisch, bei ihrer Jugendorganisation und den Landesparteien in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt ist das gesicherte Tatsache. Die Pläne zur „Remigration“, die die AfD seit Jahren vertritt, definieren Menschen ethnisch nach ihrer Herkunft und stehen in Linie mit dem verfassungsfeindlichen Volksbegriff. Das Verfassungsgericht in Karlsruhe hat vor einigen Jahren im Verfahren gegen die rechtsextremistische NPD bereits beschlossen: Ein "politisches Konzept, das auf die strikte Exklusion aller ethnisch Nichtdeutschen gerichtet ist", verletzt die Menschenwürde und somit Artikel 1 des Grundgesetzes, wonach die Würde des Menschen unantastbar sei und niemand wegen seines Geschlechtes, Abstammung, „Rasse”, Sprache, Heimat und Herkunft, Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen oder einer Behinderung benachteiligt werden dürfte. 

Ein Verbot ist zumindest theoretisch also möglich, die AfD steht in zahlreichen Punkten im klaren Bruch mit der Verfassung, so ist das Deutsche Institut für Menschenrechte der Meinung, man könne die AfD verbieten. Die deutsche Politik sieht ein Verbot dennoch als unwahrscheinlich an, die Bürden sind nämlich hoch - 2017 wurde zum Beispiel die rechtsextreme, deklariert verfassungsfeindliche NPD nicht verboten, weil von ihr als Kleinpartei keine echte Gefahr ausgehe. Das Fazit des bürgerlichen Lagers ist also klar: Man ist gegen ein Verbotsverfahren, das würde sowieso nur scheitern und die AfD dadurch stärken. Das schärfste Schwert der Verfassung - wie die Instrumente der wehrhaften Demokratie in Deutschland gern genannt werden - rostet also im Schrank vor sich hin, weil man sich trotz der Plausibilität eines Erfolges im Verbotsverfahren gegen die AfD fürchtet, es zu schwingen.

 

Kickls autokratischen Phantasien

Werfen wir nun mit dem Wissen über Hitlers Machtergreifung, Fidesz‘ kontinuierliches Schaben an staatlichen Institutionen, und das langsam vor sich hin rostende Schwert der wehrhaften Demokratie einen Blick in den heimischen Rechtsextremismus. Kickl hat den Wind zahlreicher politischen Krisen im Rücken, ist Bewunderer Orbans, und pflegt rege Beziehungen zur AfD. Einen Akteur darf man jedoch ebenfalls nicht vergessen: die ÖVP. Nicht nur bedient sich die Volkspartei immer öfters rassistischer Populismusstrategien der FPÖ, sie glaubt in historischer Tradition fehlgeleiteter Konservativer, den Rechtsextremismus für ihre Ziele lenken zu können. Die Unfähigkeit und der Unwillen der ÖVP, die momentane Wirtschaftskrise unter Kontrolle zu bringen, die Koalition der ÖVP mit der FPÖ in mehreren Bundesländern und eigene, häufige Kontakte mit der Fidesz öffnen Kickl und seinem Gefolge höflich die Tür. 

So dürfen wir auch in Anbetracht der kommenden Wahlen nicht aus den Augen verlieren, dass die zentralen Werte Konservativer und Rechter nicht im Bruch miteinander stehen, sondern sich viel mehr ergänzen. Die ÖVP marschiert weiterhin stramm nach rechts, und besonders im Angesicht der aktuellen Positionierung der SPÖ kristallisiert sich immer weiter die FPÖ als wahrscheinlichster Koalitionspartner heraus, vor Allem auch, weil Rechts und Rechtsextrem im wirtschaftspolitischen Schulterschluss miteinander stehen. 

Aber was kann denn jetzt dagegen getan werden, dass auch die aktuellen Krisen des Kapitalismus wieder im Faschismus münden? Aus Deutschland können wir lernen, dass eine aktive Zivilgesellschaft ein wichtiges Werkzeug im Kampf gegen rechtsextreme Kämpfe ist: Nach den Massendemonstrationen für Demokratie erreicht die AfD aktuell ihren niedrigsten Umfragewert seit Mai letzten Jahres, eine Trendwende, die einen Verlust von 5 Prozentpunkten bedeutet. Auch das konservative Lager zwingt man zu klareren Positionierungen gegen die AfD. Das heißt also, dass eine starke Stimme antifaschistischer Kräfte den Rechtsextremismus anschlägt: Nicht nur entzieht man ihm den Rückhalt in den Wahlkabinen, auch macht man es konservativen Kräften schwerer, Rechtsextreme für ihre politischen Zwecke zu verwenden.

Wir müssen für die Demokratie kämpfen: dem Faschismus auf der Straße die Salonfähigkeit abringen, weiter durch Bildungsarbeit die antifaschistische Bewegung festigen und ausbauen, und auch auf demokratische und linksgerichtete Kräfte Druck zu wirtschaftspolitischen Änderungen und zu Verfassungserweiterungen für eine wehrhafte Demokratie ausüben. Wir dürfen nicht abstumpfen, wenn Rechtsextreme sich immer mehr Platz nehmen, wir müssen Rechtsextremen auf allen Ebenen zeigen, dass wir bereit sind, gegen ihre menschenfeindlichen Ideale zu kämpfen. Für die Demokratie, für den Rechtsstaat, für die Erinnerung an die Millionen Opfer des Faschismus: kein Fußbreit dem Faschismus, kein Fußbreit der FPÖ!